„Hätte nie gedacht, in meinem Alter noch so viel zu lernen“

Ausbildung mit über 40? Das geht auch in der Augenoptik

Simone Tönnes und Hussam Alharouk fallen in der Berufsschule auf. Wo sonst fast nur Jugendliche sitzen, pauken auch die beiden Mittvierziger Fachwissen rund um den Augenoptiker-Beruf. Die beiden Azubis und ihre Arbeitgeber haben festgestellt: Eine späte Ausbildung ist nicht immer leicht, die Mühe aber wert.
Simone Tönnes und Daniel Busch

Simone Tönnes hat mit über 40 Jahren einen Neuanfang gewagt und die Ausbildung zur Augenoptikerin bei Daniel Busch in Essen angefangen. Mittlerweile ist sie fertig und gehört fest zum Team dazu.

© Klaus Micke / Funke Foto Service

Ach, das muss die neue Lehrerin sein! Das dachten die Mitschüler von Simone Tönnes, als sie an ihrem ersten Tag in der Berufsschule die Klasse betrat. Der war das zunächst ein bisschen peinlich: Denn Tönnes war zu dem Zeitpunkt bereits über 40 Jahre alt. Und sie nahm nicht am Lehrerpult Platz, sondern gemeinsam mit ihren viel jüngeren Mitschülern auf der Klassenbank – um dort von der Pieke auf zu lernen, was Augenoptikerinnen und Augenoptiker können und wissen müssen.

Damit ist sie eine von ganz wenigen Menschen, die sich für eine so späte Ausbildung entscheiden. Nur rund drei Prozent oder 3.849 der frischen Handwerk-­Azubis im Jahr 2019 waren 31 Jahre oder älter. Über alle Branchen hinweg liegt der Wert sogar noch niedriger, zeigen Zahlen des Statistischen Bundesamts. Viele Arbeitnehmer im fortgeschrittenen Erwachsenenalter können sich wohl nur schwer vorstellen, mit Jugendlichen noch einmal die Schulbank zu drücken. Und viele Unternehmer sind eher skeptisch, wenn sie die Bewerbung eines älteren Menschen für eine Ausbildung bekommen. Kann das wirklich gutgehen, jemanden in dem Alter noch einmal in eine Ausbildung zu stecken?

Noch einmal ganz von vorne anfangen

Oft kommen spätberufene Azubis eher durch Zufall auf die Idee, mit einer Ausbildung im Berufsleben noch einmal ganz von vorne anzufangen. So war es auch bei Simone Tönnes: Von einer Bekannten hörte sie, dass ein Augenoptiker in der Stadt eine Teilzeitkraft als Aushilfe suchte. Das könnte zu mir passen, dachte sie – die Essenerin hatte nämlich schon nach der Schule über eine Ausbildung im Augenoptikhandwerk nachgedacht, damals aber keinen Ausbildungsplatz bekommen. Stattdessen lernte sie Einzelhandelskauffrau und ließ sie sich zur Kauffrau im Gesundheitswesen weiterbilden. Dann arbeitete sie allerdings nur wenige Monate in ihrem Beruf, weil sie ein Familienmitglied pflegen und sich um ihre Tochter kümmern musste. Als die größer war, machte sich Tönnes auf die Suche nach einer Stelle, bekam aber meist nur Minijobs angeboten. Vom Arbeitsamt hieß es: „Sie sind schon vier Jahre aus Ihrem Beruf raus, da sind Sie quasi ungelernt.“

Augenoptiker Daniel Busch war dann auch zunächst skeptisch, als er Tönnes‘ Bewerbung auf die Aushilfsstelle erhielt. Weil in seinem Betrieb in der Essener City die Nachfrage stieg, die Kunden immer mehr wurden, suchte er eine zusätzliche Mitarbeiterin. „Als Aushilfe hätte uns Frau Tönnes schon bei manchen Aufgaben gut unterstützen können, aber eigentlich wollte ich ja einen Augenoptiker, der in allen Bereichen flexibel mit anpacken kann“, sagt er. „Darum fragte ich sie, ob sie nicht einfach eine Ausbildung bei mir machen möchte.“ Tönnes war kurz irritiert – ergriff dann aber die Chance auf einen Neuanfang im alten Traumjob.

Ausbildung gilt als betriebliche Umschulung

Ein Wagnis, das sich für beide Seiten lohnen kann: Wenn eine späte Ausbildung gelingt, hat es für beide Seiten große Vorteile, sagt Volker Born, Leiter der Abteilung Berufliche Bildung beim Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH): „Wenn Chefs bereit sind, ältere Azubis einzustellen, können sie neue Bewerbergruppen erschließen und so noch erfolgreicher Fachkräfte sichern.“ Hinzu kommt: „Ältere Auszubildende sind in der Regel sehr motiviert, da sie sich in einer späteren Lebensphase noch einmal ganz bewusst für eine Ausbildung entschieden haben“, erklärt er. „Damit steigt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie sich nach einem erfolgreichen Abschluss der Lehre auch langfristig an den Betrieb binden.“ Chefs müssen also kaum Angst davor haben, die perfekte Fachkraft auszubilden und dann an die Konkurrenz zu verlieren. Die Investition in einen Azubi zahlt sich bei älteren Bewerbern laut ZDH-Experte Born also oft langfristig aus. Für Menschen wie Tönnes, die in mittlerem Alter noch einmal einen beruflichen Neustart wagen wollen, ist eine Ausbildung im Handwerk wiederum eine große Chance auf einen langfristig sicheren Arbeitsplatz als gut ausgebildete Fachkraft.

Dafür müssen allerdings beide Seiten erst einmal die nötige Zeit für die Ausbildung investieren. Um Arbeitgebern einen zusätzlichen Anreiz zu geben, es einmal mit einem älteren Azubi zu probieren, hilft der Staat: Eine späte Ausbildung gilt als betriebliche Umschulung, und die wird finanziell vom Arbeitsamt unterstützt. Durch ihre Berufspause und den missglückten Wiedereinstieg in ihren ursprünglich erlernten Job hat sich Tönnes für diese Fördermittel qualifiziert. „Das Arbeitsamt fördert die Umschulung und zahlt aktuell 75 Prozent der Ausbildungsvergütung“, berichtet ihr Ausbilder Busch. Auch die Azubis selbst können von Fördermitteln profitieren: Je nach Ausbildung oder Weiterbildung gibt es von der Bundesagentur für einen erfolgreichen Abschluss bis zu 1.500 Euro als Prämie.

Überzeugen mit „Charme und viel Beharrlichkeit“

Das brachte Tönnes dazu, die Ausbildung schneller abzuschließen als ursprünglich geplant: Eigentlich wollte sie es langsam angehen lassen, schließlich liegt ihre Schul- und Ausbildungszeit schon lange zurück. Sie muss sich erst wieder ans Lernen gewöhnen. Zudem muss sie sich weiter um ihre Familie kümmern. „Eigentlich wollte ich die Ausbildung in Teilzeit absolvieren, das ist im Handwerk ja möglich.“ In Kombination mit der Förderung ging das aber nicht – also zog sie die Ausbildung nun innerhalb von nur zwei Jahren durch. Dank der Fördermittel konnte Ausbilder Busch sie dabei mit besonderer Flexibilität unterstützen: „Ich war jede Woche drei Tage im Betrieb und zwei in der Berufsschule“, sagt Tönnes. „So konnte ich im ersten Jahr Kurse der Unter- und Mittelstufe besuchen, jetzt die restlichen der Mittel- und alle der Oberstufe.“

Die Beantragung solcher Fördermittel kann je nach Ausgangssituation allerdings recht aufwendig sein. Claus Dechange, Augenoptikermeister und Inhaber von Optik Grimmer in Mainz, verzichtete daher lieber ganz auf finanzielle Unterstützung vom Staat – obwohl auch er im vergangenen Jahr einen Ü-40-Azubi eingestellt hat, für den er wohl Umschulungs- und Integrationshilfen hätte beantragen können. „Ich habe einfach keine Lust, mich stundenlang mit Formularen zu befassen, um dann irgendwelche Zuschüsse zu bekommen“, sagt er. „Entweder, ich bin von einem Bewerber um einen Ausbildungsplatz überzeugt und sehe in ihm Potenzial – oder eben nicht.“

Hussam Alharouk ist es gelungen, den Augenoptiker zu überzeugen: mit „Charme und viel Beharrlichkeit“, sagt Dechange. Der 45-jährige Alharouk ist vor fünf Jahren aus Syrien geflohen und nach Deutschland gekommen. In seiner Heimat hatte er bereits als Augenoptiker gearbeitet. „In Deutschland habe ich dann erst Sprachkurse gemacht, wollte aber so schnell wie möglich wieder arbeiten, denn ich liebe meinen Beruf sehr“, berichtet Alharouk. Auf viele Bewerbungen bekam er Absagen, ohne überhaupt erst zum Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden – sein Alter und Sorgen wegen Sprachschwierigkeiten schreckten viele potenzielle Arbeitgeber ab. Bei Dechange ergatterte er schließlich zunächst einen Praktikumsplatz und startete dann vor zwei Jahren als Azubi.

Claus Dechange und Hussam Alharouk

Augenoptikermeister Claus Dechange (l.) ist begeistert von seinem neuen Azubi und hat ihm bereits eine Übernahme in Aussicht gestellt. Azubi Hussam Alharouk kam vor fünf Jahren als Flüchtling aus Syrien nach Deutschland und war bereits in seiner Heimat als Augenoptiker tätig.

© Optik Grimmer

„Er weiß, er ist in diesem Beruf richtig“

„Zum einen hat er einfach persönlich sehr gut ins Team gepasst“, erklärt Dechange seine Entscheidung. „Zum anderen hat man auch gemerkt: Er ist schon tiefer im Thema drin als ein Azubi, der frisch von der Schule kommt. Er weiß genau, was er will, und dass er in diesem Beruf richtig ist.“ Für Dechange gute Gründe, Alharouk als Auszubildenden einzustellen. „Letztlich bringen ja auch junge Azubis immer ein Risiko mit sich. Wir haben schon alles Mögliche erlebt: Schwangerschaften während der Ausbildung, Abbruch kurz vor der Abschlussprüfung.“ Im Vergleich dazu ist Alharouks Nachholbedarf bei den Sprachkenntnissen kein ernsthaftes Problem für Dechange. Bei seinem neuen Azubi, der inzwischen im zweiten Lehrjahr ist, macht der Augenoptiker sich keine Sorgen, dass er während oder nach der Ausbildung abspringt. Im Gegenteil: „Wir streben auf jeden Fall eine Übernahme an.“

Das erste Lehrjahr in der Berufsschule war hart, berichtet Alharouk, „aber seit dem zweiten geht es immer leichter, meine Noten sind schon viel besser geworden.“ Seine jungen Mitschülerinnen und Mitschüler akzeptieren und unterstützen ihn, „außerdem gibt es in meiner Klasse zwei weitere Umschüler, die schon Anfang Dreißig sind“, sagt er. Die Ausbildungszeit zu verkürzen, das kam für Alharouk allerdings nicht in Frage. „Die Ausbildung hier ist anders als in Syrien, sie geht viel tiefer, man lernt zum Beispiel viel mehr über das Material und die Produktion der Brillen.“ Alharouk will so viel Fachwissen wie möglich mitnehmen. Ihn motiviert, dass Dechange ihm die Übernahme nach der Ausbildung in Aussicht stellt – und ihm irgendwann sogar den Meisterabschluss zutraut. „Seit ich in Deutschland bin, lerne ich. Erst die Sprache, jetzt die Ausbildung. Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Alter noch so viel lernen würde“, sagt Alharouk. „Ich habe gemerkt: Es braucht Geduld. Man muss immer weiter dranbleiben. Aber dann schafft man es am Ende, es wird immer leichter.“

Dechange selbst sieht seine Zusammenarbeit mit seinem erfahrenen Azubi mit dem ungewöhnlichen Lebenslauf ebenfalls als Lernchance: „Auch wir als Team sammeln neue Erfahrungen und lernen, offener und sensibler zu werden.“ Sein Fazit: „Ich denke, man sollte keine Angst davor haben, es einmal anders zu machen als gewohnt und sich auch für ungewöhnliche Bewerber zu öffnen.“ Wenn beide Seiten wirklich wollen, „dann ist das eine echte Bereicherung für alle.“

Diese Besonderheiten sollten Sie als Chef oder Chefin bei älteren Azubis beachten

Vorerfahrung: Wer erst spät eine Ausbildung anstrebt, hat meist zuvor in verschiedenen Berufen gearbeitet und sich dadurch verschiedene Kompetenzen erarbeitet. Fragen Sie Bewerber, welche Fähigkeiten sie mitbringen. So können Sie gemeinsam vorhandene Talente ausbauen und neue Kompetenzen erlernen.

Autorität: Sind Sie selbst als Chef und der Großteil der Belegschaft jünger als der Bewerber, sollten Sie die Themen Verantwortung, Weisungen und Autorität früh ansprechen, damit es nicht später zu Problemen kommt. Im Zweifel können ein Praktikum oder Probearbeit helfen, um zu testen, ob das Miteinander funktioniert.

Selbstbewusstsein: Menschen über 30 sind in der Regel selbstbewusster als junge Menschen, die gerade die Schule beendet haben. Das kann ein Vorteil sein, weil sich ältere Azubis so schneller einarbeiten und im Umgang mit Kunden und Kollegen weniger Hilfestellungen benötigen. Es kann aber auch Sie als Chef herausfordern.

Förderungen: Bewirbt sich ein älterer Kandidat bei Ihnen als Auszubildender, fragen Sie nach den genauen Hintergründen für den Berufswechsel. Hat die Arbeitsagentur zum Beispiel eine Umschulung angeordnet oder war derjenige lange Zeit arbeitslos, können Sie von Fördermitteln profi­tieren.

Arbeitszeiten: Klären Sie Bewerber über die üblichen Ar­beits­zeiten und Vereinbarungen in Ihrem Betrieb auf. So können Ausbildungsinteressierte abschätzen, ob die Zeiten zu ihrem Leben passen. Denn häufig haben ältere Auszubildende schon familiäre Verpflichtungen und sind zeitlich weniger flexibel als junge Azubis.

Autorinnen: Jennifer Garic und Sarah Sommer