Selbst Apple hat das Spielfeld für sich entdeckt

(K)eine Zukunftsmusik: Neue Ansätze im Myopie-Management

Abseits der bekannten Behandlungsmethoden für Myopie-Management gibt es eine Vielzahl experimenteller Herangehensweisen. Einige sind bereits in der Studienphase. Zwar gilt es noch abzuwarten, was die Studienergebnisse besagen, doch sind viele (Zwischen-)Veröffentlichungen zumindest spannend bis vielversprechend. Die DOZ stellt ausgewählte Ansätze vor.
Die Forschung ist im Fluss

Verschiedene Ansätze im Myopie-Management sind noch nicht ganz greifbar. Forschende arbeiten weltweit daran, sie zu konkretisieren.

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Erstveröffentlichung in DOZ 07/23.

Beim Zusammenhang zwischen Myopie und Ernährung geht man davon aus, dass genetische und umweltbedingte Faktoren nicht allein für den Myopie-Anstieg verantwortlich sind – so zumindest der Ansatz eines Berichts von Dr. Jeffrey Anshel, Optometrist und Leiter von Cororate Vision Consulting, einer Beratungsfirma unter anderem zur Augenernährung. Allein genetische Gründe erklärten die steigende Myopie-Prävalenz nicht, was darauf schließen lasse, dass Umwelteinflüsse eine wesentliche Rolle spielen. Bereits zahlreiche Studien beweisen, dass Arbeiten in der Nähe oder an digitalen Endgeräten einen wesentlichen Einfluss auf die Myopie-Entwicklung hat (siehe dazu auch Artikel Fragen, messen, beurteilen - und vor allem pro-aktiv beraten). Während Kinder in den Industrieländern im Laufe des Erwachsenwerdens regelmäßig in der Nähe arbeiten, wird nur ein bestimmter Prozentsatz myop. Demnach müsse ein weiterer Faktor einbezogen werden, in diesem Fall die Ernährung. 

Evolutionär betrachtet hatte der frühe Homo sapiens keine signifikante Myopie, da die Menschen Raubtiere frühzeitig erkennen mussten, um zu überleben. Die proteinreiche Ernährung zur damaligen Zeit ging mit mäßigem Fett- und niedrigem Kohlenhydratgehalt und damit mit einen niedrigeren glykämischen Index einher. Der glykämische Index ordnet Kohlenhydrate basierend auf ihrer Auswirkung auf den Blutzuckerspiegel ein. Lebensmittel mit einem geringen glykämischen Index werden langsamer verdaut und bewirken einen allmählichen Anstieg des Blutzucker- und Insulinspiegels. Eine „westliche Ernährung“ mit einem hohen Anteil an raffiniertem Getreide und Zucker führt zu einer dauerhaften Zunahme der glykämischen Belastung. Ein Zustand der Hyperinsulinämie, also der zu hohen Insulinkonzentration im Blut, kann zum anhaltenden Wachstum der Sklera führen und dies wiederum die Myopie begünstigen. 

Anshel stellt in seiner Arbeit heraus, dass einige der für das Wachstum wichtigen Nährstoffe mit der Entstehung der Myopie in Verbindung gebracht werden, insbesondere die Vitamine A, B2 und C. So ist Vitamin A für zahlreiche biologische Prozesse wie etwa den Sehvorgang notwendig. Vitamin C ist wichtig für den Aufbau der Kollagenproduktion im Körper. Man kennt es auch unter dem Namen Ascorbinsäure; in natürlichen Produkten ist es in Paprika, Petersilie und Zitrusfrüchten enthalten. Riboflavin, auch Vitamin B2, ist als Enzymbestandteil an zahlreichen Stoffwechselprozessen beteiligt und kommt in Fisch, Milchprodukten, Samen und Nüssen vor. Laut Studien soll bei oral verabreichtem Riboflavin mit einer Ganzkörper-UVA-Bestrahlung die Festigkeit und Steifheit der Sklera durch Veränderung der biochemischen und biomechanischen Eigenschaften erhöht werden. Weiteren Studien zufolge soll das violette Licht das Fortschreiten der Myopie unterdrücken. Es gibt Dokumentationen über Menschen ostasiatischer Abstammung, die tendenziell eine höhere Insulinresistenz und dadurch eine höhere genetische Anfälligkeit für Myopien aufweisen als Europäer. So ist es möglich, dass ein Neugeborenes mit asiatischen Markern und einer Hyperopie aufgrund von raffiniertem Getreide und von Kohlenhydraten eine Hyperinsulinämie entwickelt. Durch diese würde das Wachstumsmuster der Sklera dünner werden und zu einer Myopie führen. 

Durchblutung der Sklera soll angeregt werden

Ein Gerät, das laut Hersteller mit Infrarotlicht das Augenlängenwachstum hemmen können soll, ist das Myproclear des Unternehmens Eyerising International. Vom Aussehen her ähnelt es den Führerschein-Sehtestgeräten in den augenoptischen Fachgeschäften. Die Behandlung mit diesem Gerät beruht auf der Annahme, dass das Auge aufgrund falscher Ernährung (siehe links) einen Vitaminmangel hat und dadurch eine Sklera-Hypoxie (Sauerstoffmangel) entsteht. Myproclear soll mit einer wiederholten „Repeated Low-Level Red-Light-Therapie“ (RLRL) den Blutfluss im Augenhintergrund sanft stimulieren. 

Die Behandlung wird in Zusammenarbeit mit einer Augenärztin durchgeführt und das Gerät kann zusätzlich die Patienten-Compliance-Daten überwachen und teilen. So kann der Augenarzt diese bei der Nachuntersuchung auswerten und verwenden. Die Behandlung dauert drei Minuten und soll zweimal täglich an fünf Tagen in der Woche durchgeführt werden. Ein Mindestabstand von vier Stunden sollte zwischen den zwei täglichen Sitzungen eingehalten werden. Zu Beginn der Therapie sollten die Kontrollen nach einem, drei und dann wieder nach sechs Monaten durchgeführt werden. Myproclear ist für Kinder ab drei Jahren ausgelegt und wird über einen Touchscreen bedient. Es kann laut Hersteller als alleinige Therapie genutzt werden oder in Kombination mit Brille oder Kontaktlinsen, die während der Anwendung allerdings nicht getragen werden sollen. Die Behandlung mit dem Gerät kann nicht parallel mit einer Atropin-Behandlung durchgeführt werden, entsprechend müssen die Tropfen zwei Wochen zuvor abgesetzt werden.

Rotlicht als Therapie

Rotlicht wird bereits zur Wärmetherapie bei einem Chalazion angewendet. Nun soll es als Myopie-Therapie den Blutfluss der Aderhaut anregen und das Wachstum verlangsamen. 

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In veröffentlichten Studien soll das Eyerising-Gerät bis zu 87,7 Prozent das Fortschreiten der Myopie verringert haben. Die Empfehlung zur Therapieanwendung wird auf zwei Jahre angesetzt. Nach Beendigung der Therapie sollte alle sechs Monate eine Kontrolle stattfinden, um sicherzugehen, dass sich das Auge natürlich weiterentwickelt und keine erneute Myopisierung stattfindet. Laut 13 asiatischen Studien soll es keine schwerwiegenden Nebenwirkungen geben:  

Die Kinder äußerten teils ein rotes Nachbild, dieses verschwand jedoch nach spätestens ein paar Minuten wieder. Laut eigener klinischer Studie von Eyerising wurde nach zwölf Monaten bei 21,6 Prozent der teilnehmenden Kinder eine axiale Verkürzung von mehr als 0,05 Millimeter nachgewiesen. An der Studie nahmen 434 myope Kinder im Alter von drei bis 17 Jahren teil. Die Therapie erfolgte mindestens zwölf Monate und das Licht war auf 650 Nanometer eingestellt. Ziel war es, die Aderhautschicht wieder zu verdicken und das Längenwachstum zu hemmen. Bei der Studie wurde nach Beendigung der Therapie ein Rebound-Effekt festgestellt.  

Keine Innovation ohne Kritik: Laut einem Forschungsbericht von Dwight Akerman, Chefredakteur Medizin des Magazins Review of Myopia Management, wies die Evidenz der oben genannten Studie eine geringe Vertrauenswürdigkeit auf, es seien also weitere, strenger konzipierte Studien nötig. In diesen sollte dann der Rebound-Effekt weiter untersucht werden. Nichtsdestotrotz kennzeichnet die Webseite des Herstellers Eyerising auf einer Weltkarte ganz Europa bereits mit „cleared for sale“, weist aber zugleich darauf hin, dass noch Vertriebspartner gesucht werden. Die DOZ wird weiter berichten.  

Mit dem Smartphone gegen die Myopie

Eine Smartphone-basierte Therapie bietet die Software MyopiaX. Sie wird in Kombination mit einem normalen Handy, einer Virtual-Reality-Brille und einem kabellosen Game-Controller genutzt. Ausschließlich die MyopiaX-App wurde als medizinisches Gerät entwickelt, die restlichen Komponenten werden nur zur Durchführung benötigt. Entwickelt wurde die Software von der Firma Dopavision. Deren Gründer (2017 mit Stefan Zundel) und Geschäftsführer Hamed Bahmani ist zugleich wissenschaftlicher Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts Tübingen. Die App soll die Hürde zur Behandlung senken, da die meisten Menschen das Smartphone ohnehin täglich nutzen.

Die Universitätsklinik Tübingen ist eine von fünf Kliniken in Deutschland, die an der aktuellen Studie zur Wirksamkeit von MyopiaX-1 teilnehmen, hinzu kommen Einrichtungen in Spanien, Portugal, Niederlande und im Vereinigten Königreich. Aufgrund von Erkenntnissen aus vorklinischen Forschungen erteilten Zulassungsbehörden und Ethikkommission die Genehmigung für eine klinische Studie. Die App soll mit Hilfe blauen Lichts gezielt den blinden Fleck im Auge stimulieren und so die Dopaminproduktion im Auge steigern. Dopamin ist ein Neurotransmitter, der Signale zwischen den Nervenzellen weiterleitet. Zusätzlich ist es nachweislich an der Regulierung des Augenwachstums beteiligt. Die erhöhte Dopaminproduktion in der Netzhaut soll zu Signalen führen, die das Wachstum des Auges verlangsamen. Indem nur der blinde Fleck beleuchtet wird, kann das Licht mit einem relativ kleinen Lichtreiz über die Axone der meisten anvisierten Zellen gleichzeitig stimuliert und aktiviert werden. Diese  Zellen signalisieren dann den Dopamin freisetzenden Zellen im Auge, ihre Aktivität zu erhöhen. Der Lichtreiz wird über die MyopiaX-App auf den Standort des blinden Flecks der jeweiligen Person kalibriert.

Für die klinische Studie werden zur Zeit Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren ausgewählt, Augenärzte legen die Zulassungskriterien fest. Unter anderem muss ein sphärischer Refraktionsfehler von mindestens −0,75 Dioptrien vorliegen. Des Weiteren dürfen die Kinder an keiner früheren oder aktuellen Therapie der  Myopie teilnehmen oder teilgenommen haben. In der randomisierten Studie gibt es zwei Gruppen, Gruppe eins nutzt die MyopiaX-App, Gruppe zwei ein Myopieglas. Die Studie soll zwölf Monate dauern. Nach sechs Monaten erhält Gruppe eins zusätzlich ein Myopieglas.  

Mit digitalen Geräten gegen die Myopie

Einen ganz neuen Ansatz zur Myopie-Therapie stellt eine App in Kombination mit einer VR-Brille und einem Joystick dar, bei der mit Blaulicht die Papille bestrahlt wird und so die Myopie gebremst werden soll. 

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Lässt sich die Apple-Watch täuschen?

Ein neuer, in anderen Märkten recht bekannter Hersteller sprang jüngst auf den Myopie-Management-Zug auf: Apple stellte bei seiner diesjährigen „Worldwide Developers Conference“ die aktuellen Software-Updates für die Apple-Watch vor. Die Uhr soll aufgrund des eingebauten Umgebungslichtsensors erkennen, wie viel Zeit der Träger oder die Trägerin im Freien verbringt. Experten empfehlen eine Zeitspanne von 80 bis 120 Minuten pro Tag zur Myopie-Prävention. Über die Health-App auf dem Handy sollen Eltern wie Kinder in Zukunft prüfen können, wie viel Zeit im Freien verbracht wurde (wobei sich die Frage stellt, ob ein geöffnetes Fenster eventuell ausreicht, um der Uhr den Aufenthalt im Freien vorzugaukeln). Zusätzlich sollen iPads zukünftig mit einer Screen Distance-Funktion versehen werden. Das heißt: Wird das Tablet zu nah an die Augen gehalten, wird automatisch ein Sperrbildschirm eingeblendet. Dadurch soll das Risiko der Myopie zusätzlich reduziert werden, indem die Kinder nicht mehr so nah an die Geräte herankönnen und weniger akkommodieren müssen. Diese Funktion wird über die TrueDepth-Kamera ermöglicht, die auch gleichzeitig für die Face ID zuständig ist.

Ob Nahrung, Distance-Funktion, Rot- oder Blaulichttherapie, es bleibt spannend, welche neuen Ansätze in Zukunft noch erdacht, erforscht und erprobt werden, um die Myopie bei Kindern zu reduzieren.