DOZ
09 | 2017
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Sehen im Straßenverkehr ist mehr als das
Erkennen von Verkehrszeichen oder ent-
gegenkommenden Fahrzeugen; Sehen
steht am Anfang eines Entscheidungs-
prozesses, der zu einer Reaktion auf Ver-
änderungen in der Außenwelt führen soll.
Einzelne Sehfunktionen wie Sehschärfe,
Gesichtsfeld oder Kontrastempfindlichkeit
sind zwar wichtige Voraussetzungen für
das Erkennen von Objekten und Ereig-
nissen im Straßenverkehr, sie erfassen
jedoch, wenn sie isoliert betrachtet wer-
den, nicht die Komplexität der visuel-
len Umwelt. Autofahren bedeutet, sich
in einer Umwelt mit sich kontinuierlich
verändernden visuellen Reizen zurecht
zu finden. Es setzt gleichzeitig zentra-
les und peripheres Sehen voraus. Allein
aufgrund der Bewegung des Verkehr-
steilnehmers verändert sich die visuelle
Umwelt ständig, wobei das Ausmaß die-
ser Veränderungen von der Geschwin-
digkeit der Bewegung bestimmt wird.
Die vorrangige Aufgabe jedes Verkehrs-
teilnehmers – seien es Fußgänger, Fahr-
radfahrer oder Autofahrer – ist es, auf
diese Veränderungen in der unmittel-
baren Umwelt in angemessener Weise
zu reagieren. Das Gehirn muss aus der
Mannigfaltigkeit der sich kontinuierlich
verändernden Lichtverteilung auf der
Netzhaut konstante Strukturen extrahie-
ren und hieraus ein Abbild der Außen-
welt rekonstruieren. Hierbei handelt es
sich um einen kognitiven Prozess, der die
ungeteilte Aufmerksamkeit des Verkehr-
steilnehmers erfordert. Solche kognitiven
Prozesse im Gehirn werden durch Sinnes-
reize, die überwiegend über die Augen
und Ohren aufgenommen werden, aus-
gelöst. Dabei kommt dem Sehen als klas-
sischem Fernsinn im Straßenverkehr eine
größere Bedeutung zu als dem Hören, das
als Nahsinn primär auf Veränderungen in
der näheren Umgebung reagieren kann.
Einschränkungen des Sehvermögens, die
durch fehlende oder unzureichende Kor-
rektionen von Fehlsichtigkeiten, Altersver-
änderungen des Gehirns oder Erkrankun-
gen der Augen verursacht sein können,
schränken den Datenaustausch zwischen
Umwelt und Gehirn ein, sodass keine an-
gemessenen Reaktionen auf veränderte
Situationen in der Umwelt möglich sind
oder gar unterbleiben.
Kognition
In der Psychologie bezeichnet die Kogni-
tion die Gesamtheit aller informationsver-
arbeitenden Prozesse eines intelligenten
Systems, wobei ein intelligentes System
nicht auf den Menschen beschränkt sein
muss. Auf den Menschen bezogen um-
fasst die Kognition alle seine geistigen
Aktivitäten; hierzu zählen unter anderem
Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Denken,
Intelligenz, Sprechen oder Problemlösen.
Diese Prozesse verleihen dem Menschen
die Fähigkeit, auf veränderte Umweltbe-
dingungen zielgerichtet und flexibel zu
reagieren. Die kognitiven Prozesse im Ge-
hirn, die zu einer angemessenen Reaktion
führen, laufen in der Regel unterhalb der
bewussten Wahrnehmung ab.
Sehen und Kognition
Ein zur Kognition fähiges System erhält
über die Sinnesorgane Informationen
über Veränderungen in der Umwelt. Im
Straßenverkehr können dies die plötz-
lich aufleuchtenden Bremslichter des
vorausfahrenden Fahrzeugs, ein auf die
Fahrbahn rollender Ball oder die von Rot
auf Grün umspringende Verkehrsampel
Regelmäßig verpflichtende
Sehtests, speziell bei älteren
Menschen, sind eine häufig
formulierte Forderung an
den Gesetzgeber. Unbe-
stritten ist gutes Sehen eine
Grundvoraussetzung für eine
sichere Teilnahme am Stra-
ßenverkehr als Fahrer eines
Pkws. Allerdings werden
die Anforderungen, die an
das Sehen eines Autofahrers
von Seiten des Gesetzgebers
gestellt werden, meistens
überschätzt. In einer drei-
teiligen Artikelserie werden
die Aspekte rund ums Sehen
im Straßenverkehr von
unterschiedlichen Seiten
beleuchtet.
Abb. 16: Black-Box Modell der Kognition: Das Gehirn erhält über die Sinnesorgane Informatio-
nen über Veränderungen in der Umwelt, auf die der Organismus reagieren muss, um zu über-
leben. Als Kognition werden die Prozesse im Zentralnervensystem zusammengefasst, die die
adäquate Antwort auf die veränderten Umweltbedingungen auslösen. Insbesondere sensorische
Defizite (Seh- und Hörschwächen) und mangelnde Aufmerksamkeit können die Kognition stören
und damit zu einer Gefährdung im Straßenverkehr führen.
Sehen
Hören
Handeln
Reaktion
Kognition
Aufmerksamkeit
Wissen
Erfahrung
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