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DOZ

09 | 2017

65

Sehen im Straßenverkehr ist mehr als das

Erkennen von Verkehrszeichen oder ent-

gegenkommenden Fahrzeugen; Sehen

steht am Anfang eines Entscheidungs-

prozesses, der zu einer Reaktion auf Ver-

änderungen in der Außenwelt führen soll.

Einzelne Sehfunktionen wie Sehschärfe,

Gesichtsfeld oder Kontrastempfindlichkeit

sind zwar wichtige Voraussetzungen für

das Erkennen von Objekten und Ereig-

nissen im Straßenverkehr, sie erfassen

jedoch, wenn sie isoliert betrachtet wer-

den, nicht die Komplexität der visuel-

len Umwelt. Autofahren bedeutet, sich

in einer Umwelt mit sich kontinuierlich

verändernden visuellen Reizen zurecht

zu finden. Es setzt gleichzeitig zentra-

les und peripheres Sehen voraus. Allein

aufgrund der Bewegung des Verkehr-

steilnehmers verändert sich die visuelle

Umwelt ständig, wobei das Ausmaß die-

ser Veränderungen von der Geschwin-

digkeit der Bewegung bestimmt wird.

Die vorrangige Aufgabe jedes Verkehrs-

teilnehmers – seien es Fußgänger, Fahr-

radfahrer oder Autofahrer – ist es, auf

diese Veränderungen in der unmittel-

baren Umwelt in angemessener Weise

zu reagieren. Das Gehirn muss aus der

Mannigfaltigkeit der sich kontinuierlich

verändernden Lichtverteilung auf der

Netzhaut konstante Strukturen extrahie-

ren und hieraus ein Abbild der Außen-

welt rekonstruieren. Hierbei handelt es

sich um einen kognitiven Prozess, der die

ungeteilte Aufmerksamkeit des Verkehr-

steilnehmers erfordert. Solche kognitiven

Prozesse im Gehirn werden durch Sinnes-

reize, die überwiegend über die Augen

und Ohren aufgenommen werden, aus-

gelöst. Dabei kommt dem Sehen als klas-

sischem Fernsinn im Straßenverkehr eine

größere Bedeutung zu als dem Hören, das

als Nahsinn primär auf Veränderungen in

der näheren Umgebung reagieren kann.

Einschränkungen des Sehvermögens, die

durch fehlende oder unzureichende Kor-

rektionen von Fehlsichtigkeiten, Altersver-

änderungen des Gehirns oder Erkrankun-

gen der Augen verursacht sein können,

schränken den Datenaustausch zwischen

Umwelt und Gehirn ein, sodass keine an-

gemessenen Reaktionen auf veränderte

Situationen in der Umwelt möglich sind

oder gar unterbleiben.

Kognition

In der Psychologie bezeichnet die Kogni-

tion die Gesamtheit aller informationsver-

arbeitenden Prozesse eines intelligenten

Systems, wobei ein intelligentes System

nicht auf den Menschen beschränkt sein

muss. Auf den Menschen bezogen um-

fasst die Kognition alle seine geistigen

Aktivitäten; hierzu zählen unter anderem

Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Denken,

Intelligenz, Sprechen oder Problemlösen.

Diese Prozesse verleihen dem Menschen

die Fähigkeit, auf veränderte Umweltbe-

dingungen zielgerichtet und flexibel zu

reagieren. Die kognitiven Prozesse im Ge-

hirn, die zu einer angemessenen Reaktion

führen, laufen in der Regel unterhalb der

bewussten Wahrnehmung ab.

Sehen und Kognition

Ein zur Kognition fähiges System erhält

über die Sinnesorgane Informationen

über Veränderungen in der Umwelt. Im

Straßenverkehr können dies die plötz-

lich aufleuchtenden Bremslichter des

vorausfahrenden Fahrzeugs, ein auf die

Fahrbahn rollender Ball oder die von Rot

auf Grün umspringende Verkehrsampel

Regelmäßig verpflichtende

Sehtests, speziell bei älteren

Menschen, sind eine häufig

formulierte Forderung an

den Gesetzgeber. Unbe-

stritten ist gutes Sehen eine

Grundvoraussetzung für eine

sichere Teilnahme am Stra-

ßenverkehr als Fahrer eines

Pkws. Allerdings werden

die Anforderungen, die an

das Sehen eines Autofahrers

von Seiten des Gesetzgebers

gestellt werden, meistens

überschätzt. In einer drei-

teiligen Artikelserie werden

die Aspekte rund ums Sehen

im Straßenverkehr von

unterschiedlichen Seiten

beleuchtet.

Abb. 16: Black-Box Modell der Kognition: Das Gehirn erhält über die Sinnesorgane Informatio-

nen über Veränderungen in der Umwelt, auf die der Organismus reagieren muss, um zu über-

leben. Als Kognition werden die Prozesse im Zentralnervensystem zusammengefasst, die die

adäquate Antwort auf die veränderten Umweltbedingungen auslösen. Insbesondere sensorische

Defizite (Seh- und Hörschwächen) und mangelnde Aufmerksamkeit können die Kognition stören

und damit zu einer Gefährdung im Straßenverkehr führen.

Sehen

Hören

Handeln

Reaktion

Kognition

Aufmerksamkeit

Wissen

Erfahrung

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