HHVG: Nachgehakt bei Optometrist Stefan Lahme

Stefan Lahme
Stefan Lahme
© S. Lahme

Jüngst wurde vom Bundestag das Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz, HHVG) verabschiedet. Ab einer Sehschwäche von sechs Dioptrien oder bei einer Hornhautverkrümmung ab vier Dioptrien übernehmen gesetzliche Krankenkassen zukünftig die Kosten für die Sehhilfen. Diese Änderung bewegt natürlich die Branche. Die DOZ fragt nach...

Herr Lahme (Optometrist), was halten Sie von  den Änderungen des Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetzes?

Nichts, die Neuregelung hält für die gesamte Branche ausschließlich Negatives bereit, insbesondere für Optometristen und Kontaktlinsenspezialisten. Seit 1933 sind die Berufsrechte von Augenoptikern nie mehr beschnitten worden, bis zum 11. April dieses Jahres. Das ist die größte Niederlage seit mehr als 80 Jahren und kommt einem Berufsverbot gleich.

Ist das nicht etwas übertrieben angesichts der geschätzten 1,4 Millionen Fehlsichtigen, von denen wir hier reden?

Nein, das ist nicht übertrieben und ich bin sicher, dass eine solche Entwicklung vor zwei oder drei Jahrzehnten, als ich mit der Optometrie angefangen habe, zu einem Entrüstungssturm im Berufsstand geführt hätte. Es scheint, heute ist es vielen Kollegen egal, sie werden aber noch aufwachen. In meinem Fall betrifft die Änderung mehrere Bereiche, ich beschränke mich auf zwei Beispiele. Wir begeben uns bei der Kontaktlinsenversorgung von Erwachsenen über acht Dioptrien wieder in den Zwang der Krankenkassen, Komplettlieferungen abzurechnen. Eine verantwortungsvolle Versorgung mit Kontaktlinsen ist aber zu den vorhandenen wie diskutierten Festbeträgen unmöglich. Und abgesehen davon, dass es psychologisch nachteilig für unsere Branche ist, wenn der Patient zunächst wieder zum Augenarzt muss, erwarte ich auch in der Regelung zur Folgeversorgung zumindest in den kommenden zehn Jahren nicht weniger als ein Desaster.

Teilen Sie denn zumindest die  Meinung, dass die Versicherten einen Vorteil aus dem neuen  HHVG ziehen können?

Wenn man das zu Ende denkt, dann nein. Wenn eine Gruppe in einer Solidargemeinschaft einen Zuschuss bekommt, dann zahlen den alle. Es gibt keine schlüssige Begründung, warum ein Fehlsichtiger ab sechs Dioptrien  einen Zuschuss erhalten soll, warum nicht schon ab vier oder zwei? Die Ausgaben für die Kassen werden explodieren. Höhere Festbeträge für Kinder bedeuten deutlich höhere Kosten, und sollte es beim Augenarztzwang bis zu einer höchstrichterlichen Entscheidung bleiben, entstehen auch da viel höhere Kosten. Die zahlen dann alle Versicherten und anteilig auch alle Arbeitgeber.

Die Festbeträge sollen und müssen bis 2018 neu verhandelt werden, was wünschen Sie sich, kann man das nicht vielleicht durch entsprechende Zuschüsse der Krankenkassen positiv gestalten?

Selbst beim wohlwollendsten Blick in die Glaskugel, frage ich mich, wie das funktionieren soll? Das Beste wäre, die Festbeträge so niedrig wie möglich zu halten. 99 Prozent aller Augenoptiker und Optometristen wünschen sich keine neue Notwendigkeit, mit den Krankenkassen zusammenarbeiten zu müssen. Und ich wünsche mir viel mehr, dass es uns gelingt, die rechtliche Regelung wieder zurückzunehmen und dass der Gesetzgeber Vernunft walten lässt: mit einer Regelung inklusive einem Erstverordnungsrecht für Augenoptiker und Optometristen und beispielsweise ohne Einschränkungen bei der Versorgung von Kindern und mit Kontaktlinsen. Ich weiß, das passiert nicht, aber der Berufsstand muss jetzt endlich aufwachen, wir alle in der Branche waren die vergangenen Jahre zu bequem und hätten gegen gewisse Dinge in der Vergangenheit schon längst vorgeben müssen. Der Zentralverband der Augenoptiker und Optometristen tut alles, um unsere Rechte zu wahren, doch er steht auf verlorenem Posten. Stefan Lahme hat sich seit drei Jahrzehnten der Optometrie verschrieben. Der Master of Science in Vision Science and Business sieht seinen Tätigkeitsschwerpunkt bei Kontaktlinsen, in der Kinderoptometrie und beim Binokularsehen. Lahme ist Ehrenpräsident der Vereinigung Deutscher Contactlinsenspezialisten und Optometristen (VDCO) und hat das Buch „Tests und Management nicht nur der Kinderoptometrie“ geschrieben.

Wie gehen Sie denn derzeit mit der Neuregelung in der Praxis um?

Wir rechnen den Krankenkassenbetrag ab und schicken unsere Verordnung an die Krankenkasse. Ich nehme an, dass diese alle ungenehmigt zurückkommen: Dann werden wir alle rechtlichen Mittel einsetzen, und wenn ich alle sage, dann meine ich das auch genauso. Bis zur letzten Instanz werden wir rechtlich prüfen lassen, ob diese Regelung korrekt ist – es wird vermutlich kein anderer Weg möglich sein, denn gute Argumente alleine werden jetzt wohl nicht mehr helfen, da wird jetzt nichts mehr geändert.

Das wird ein langer Weg werden.

Ja, aber den sind wir beim Screeningprozess auch schon einmal bis zum Bundesgerichtshof gegangen. Die Optometristen und Kontaktlinsenspezialisten sind am stärksten betroffen, es liegt vermutlich auch an uns, das wieder zu ändern. Zumal – und das ist der Treppenwitz daran – die Gesetzesänderung ihren Ursprung auch noch bei einem Kontaktlinseninstitut hat. Derjenige, der besonders dafür gekämpft hat, hätte wissen müssen, dass ein riesiges Risiko besteht, wenn geltende Richtlinien geändert werden. Er hätte dies sehen müssen, aber dieses unkollegiale Verhalten wurde auch von eingeweihten Kollegen nicht gestoppt – das ist nicht zu entschuldigen. Als Vize-Vorsitzender der damaligen VDC, heute VDCO, habe ich damals schon vor dem Rechtsstreit gewarnt, in dem es darum ging, den Augenärzten die Abgabe von Kontaktlinsen zu verbieten. Damals ist das für uns glimpflich abgelaufen, diesmal nicht. Zum Glück haben die Augenärzte heute das Interesse an Kontaktlinsen verloren.