„Das Wissen darf nicht verlorengehen“

Forschungsprojekt INORA soll Optikgeschichte Rathenows aufarbeiten

Das neue wissenschaftliche Forschungsprojekt „INORA“ soll die Optikgeschichte Rathenows umfassend und systematisch aufarbeiten. Projekteiter Professor Justus Eichstädt hat sich dafür eine erfahrene Expertin ins Team geholt: Dr. Bettina Götze, ehemalige Chefin des Optik-Industrie-Museums, wird in Archiven recherchieren, Exponate sichten und den Wissenstransfer von Zeitzeugen organisieren. Letztlich soll das Projekt die Weiterentwicklung des Optik-Standorts und die Identifikation der Menschen in der Region Rathenow befördern.
Inora Forschungsprojekt

Konstruktionszeichnung der von Johann Heinrich August Duncker erfundenen Vielschleifmaschine aus dem Jahr 1800; abgebildet im Buch „Rathenow. Wiege der optischen Industrie“ aus dem Verlag für Berlin-Brandenburg, von dem noch einige wenige Exemplare verfügbar sind.

© Joachim Wilisch

Erstveröffentlicht in der DOZ 12I23

Eigentlich wollte Johann Heinrich August Duncker nach seinem Theologiestudium in Halle das machen, wozu er ausgebildet wurde: Seelsorge. Das war ihm sozusagen in die Wiege gelegt. Am 14. Januar 1767 war er als Sohn eines Pfarrers in Rathenow geboren worden. Nach dem Studium kehrte er nach Rathenow zurück, das war 1789. Aber der junge Johann Heinrich August Duncker war nicht nur Pfarrer, er war auch Tüftler und fasziniert vom weiten Feld der Physik und der Optik. In Rathenow stellte er in seiner kleinen Werkstatt – sozusagen im Nebenberuf – Brillen und Mikroskope her.

1801 wurde aus dem Pfarrer der Geschäftsmann. Zusammen mit dem Garnisonspfarrer Christoph Samuel Wagener als Kapitalgeber gründete er die „Königlich privilegierte optische Industrie Anstalt“. Mit Erfindung und Bau der Vielschleifmaschine schuf Duncker noch im selben Jahr die Grundlage für die Serienherstellung hochwertiger Linsen und legte damit den Grundstein zur Massenfertigung von Brillenlinsen in Rathenow. Längst fand die Produktion nicht mehr im Pfarrhaus statt. Neben der Fabrik gab es viele kleine „Waschküchen-“ oder „Kellerbetriebe“, in denen die armen Kinder der Stadt, die Militärwaisen und die Kriegsinvaliden Dunckers präzise Sehhilfen fertigten.

Das war der Beginn der industriellen Brillenherstellung in Deutschland. Die optische Industrie brachte für die Stadt Rathenow bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs eine Blütezeit, die es so nie wieder geben sollte. Optische Erzeugnisse aus Rathenow genossen Weltruf.

Die optische Industrie lebte nach Kriegsende auf. Tausende arbeiteten in den Rathenower Optischen Werken (ROW). Doch mit der politischen Wende und der Wiedervereinigung endete das Kapitel ROW, wobei die Treuhand-Anstalt eine ebenso entscheidende wie unrühmliche Rolle spielte (die DOZ hatte darüber ausführlich im Artikel „Rathenower Optische Werke: Vom DDR-Alleinhersteller zum Sanierungsfall“ in der Ausgabe 11/21 berichtet).

Zurück zu einem anerkannten Produktionsstandort

Inzwischen, 33 Jahre nach dem Vereinigungstag, ist Rathenow wieder ein anerkannter Produktionsstandort für optische Erzeugnisse. Nach 1990 scheiterte zwar zunächst Essilor mit dem Vorhaben, eine Fertigung für Mineralgläser zu etablieren, dann kam jedoch die Fielmann AG und übernahm einen Großteil der Produktionsanlagen. Das Tochterunternehmen Rathenower Optik GmbH produziert hier Brillengläser und -fassungen und betreibt ein Logistik-Hub. Neue Unternehmen kamen hinzu – zum Beispiel „Ophthalmica“: Marlene und Reiner Krug zogen von WetzIar nach Rathenow und bauten hier eine Brillenglasschleiferei nach modernsten Standards auf. Mikroskope werden bei dem Unternehmen „Mikroskop-Technik Rathenow“ gefertigt, zudem gibt es Werkstätten für Sonderlinsen und Optikerzubehör.

„Keine umfassende Abhandlung, in der die ganze Historie berücksichtigt ist“

Zusammen wollen die Optikunternehmen stark sein und haben zunächst das Kompetenzzentrum Optik und im Jahr 2008 daraus die Optic Alliance Brandenburg- Berlin (OABB) gegründet. Vorstand und Sprecher dieses Netzwerks ist Professor Justus Eichstädt von der Technischen Hochschule Brandenburg an der Havel, der dort seit 2017 die Professur Augenoptik/Optische Gerätetechnik innehat. Eichstädt engagiert sich zudem verantwortlich im Verein zur Förderung, Pflege und Erhaltung der optischen Traditionen in Rathenow. Und hier stellte er schnell fest: „Seit 1801 ist die Geschichte der optischen Industrie immer mal wieder in Teilen aufgeschrieben worden. Es wurden auch Fundstücke katalogisiert. Aber es gibt keine umfassende Abhandlung, in der die ganze Historie berücksichtigt ist.“

Inora Mappen

Sie präsentieren ROWSchätze aus dem Archiv: (v. l.) Christian Daiber, CEO Rathenower Optik GmbH, Professor Justus Eichstädt (OABB) und Dr. Bettina Götze. Die Fielmann-Tochter Rathenower Optik GmbH unterstützt das Projekt nicht nur organisatorisch und emotional, sondern auch mit einem Förderbeitrag.

Hier setzt nun ein neues wissenschaftliches Forschungsprojekt zur Optikgeschichte Rathenows an: INORA („Innovationen der Optikgeschichte Rathenows“) soll bisher unbekannte Einzelheiten zu dem Thema zutage fördern. Das haben sich die OABB, die TH Brandenburg und die Fielmann-Tochter Rathenower Optik GmbH zusammen mit dem Verein zur Förderung, Pflege und Erhaltung optischer Traditionen vorgenommen. Seit Eichstädt zu den Protagonisten aufgerückt ist, die sich in der Region mit um die optischen Traditionen und die Zukunft der Optikindustrie kümmern, hat er in Rathenow schon einige Initiativen angestoßen beziehungsweise aufgegriffen – so etwa den gemeinsamen Auftritt auf der Branchenmesse Opti in München, den Optik-Stammtisch und eine viel beachtete Optik-Konferenz im Kulturzentrum.

Zur Finanzierung des aktuellen Projekts hat Eichstädt, übrigens selbst gelernter Augenoptiker (bei der Menz Optic AG), zunächst einen Etat aus seiner Professur bereitgestellt und sich anschließend darangesetzt, Drittmittel zur Re- und Cofinanzierung einzuwerben. „Dass sich daran auch die Rathenower Optik GmbH beteiligt, freut mich besonders“, erklärt der Professor, der mit diesem „Startkapital“ ganz tief in die Materie einsteigen will. Dafür hat sich Eichstädt eine Expertin an die Seite geholt, die sich dem Projekt in den kommenden zwei Jahren wissenschaftlich widmen wird. Dr. Bettina Götze ist aufgrund ihrer Erfahrungen und bisheriger wissenschaftlichen Arbeiten in den Augen von Eichstädt für INORA bestens geeignet. Sie leitete in Rathenow das Kreismuseum und später im Kulturzentrum der Stadt das Optik Industrie Museum. „Mein Herzensanliegen war und ist, die optischen Traditionen zu bewahren“, sagt sie. Im Verein zur Förderung, Pflege und Erhaltung der optischen Traditionen in Rathenow versammelten sich mit Bettina Götze Interessierte, die Sammlerstücke aus der Optikhistorie suchten, archivierten und aufbewahrten.

Neben Augenoptik geht es auch um Leuchttürme und Fotografie

Zu der über 220 Jahre währenden Optikgeschichte Rathenows wurden in den vergangenen Jahrzehnten erste wissenschaftliche Untersuchungen unternommen. Dazu gehörte das Sichten historischer Dokumente und Exponate sowie das Befassen mit Optik-Protagonisten. „Dies führte zu einer Sammlung und Dauerausstellung im Optik Industrie Museum Rathenow“, erinnert Götze. Dabei wurden bestimmte Aspekte im Detail beleuchtet, so etwa die Produktion von Leuchtturm-Optik bei dem Unternehmen „Gebrüder Picht“ in Rathenow. Viele Leuchttürme an der deutschen Küste wiesen mit Leuchtfeuer-Optik aus Rathenow – Motto: „Das Licht von Picht“ – den Weg. Zur Erinnerung steht ein Leuchtturm mit Picht’scher Leuchtfeuer-Technik im Rathenower Optikpark.

Dr. Bettina Götze

Dr. Bettina Götze möchte die optischen Traditionen der Stadt Rathenow bewahren. Das Projekt INORA gibt ihr weitere Gelegenheit dazu.

Um besser zu verstehen, was es mit INORA auf sich hat, lohnt ein tieferer Einblick. Die Erfindung der Fotografie um 1830 eröffnete dem Unternehmer Emil Busch ein neues Betätigungsfeld. In der Optischen Industrie Anstalt Rathenow, die er 1845 von seinem Onkel Eduard Duncker übernahm, konnte er sowohl seine wissenschaftlichen als auch kaufmännischen Kenntnisse und Erfahrungen einsetzen. Um 1850 etablierte er die Herstellung fotografischer Objektive als festen Bestandteil der Produktion neben Brillen im Unternehmen. 1865 gelang es Busch, ein Weitwinkelobjektiv zu konstruieren und unter dem Namen „Pantoscop“ zu vertreiben. Dieses Objektiv verfügte über die größten damals realisierten Bildwinkel von 105 Grad und eine Brennweite von 25 Millimetern. Auf Basis des Pantoscops entwickelte wenig später wiederum der Ingenieur Albrecht Meydenbauer ein Verfahren, das es ermöglichte, die Maße eines Bauwerkes indirekt mit Hilfe fotografischer Bilder zu ermitteln, ohne wie davor notwendig am Bauwerk selbst.

Gesamte Optikhistorie in einer Publikation

Das sind historische Begebenheiten, die auch in Rathenow nur einem kleinen interessierten Kreis zugänglich waren. Bettina Götze hatte sich des Pantoscops angenommen und im Kulturzentrum der Stadt eine Ausstellung samt aufwendig hergestelltem Katalog organisiert. Aber Justus Eichstädt schränkt ein: „Wir haben bisher nur einen Teil wirklich gut erforscht.“ Darum soll nun mit Hilfe von INORA alles, was zur Optikhistorie vorliegt, zusammengeführt und in einer Publikation veröffentlicht werden. Götze erläutert, wie sie vorgehen möchte. „Einer Analyse der Bestände folgt der Versuch, unbekannte Aspekte zum Thema zu erarbeiten. Außerdem will ich mich den Personen widmen, die mit der Optik-Geschichte verbunden sind.“ Ergänzt wird das durch wirtschaftshistorische Themen.

Inora Fielmann-Archiv

Professor Justus Eichstädt (OABB, vorne) und Christian Daiber, CEO Rathenower Optik GmbH, begutachten ROW-Schätze aus dem umfangreichen Fielmann-Archiv.

Justus Eichstädt glaubt, dies sei der richtige Moment, um das Projekt anzugehen. „Leider ist diese umfassende, systematische Untersuchung der Optikgeschichte Rathenows noch nicht gelungen. Hinzu kommt, dass derzeit viele Personen, die sich in den vergangenen Jahren engagiert haben, in den beruflichen Ruhestand gehen.“ Auf keinen Fall dürfe das Wissen, das diese Personen angesammelt haben, verlorengehen. „Hier gilt es neu zu denken und einen aktiven Wissenstransfer zu organisieren und zu ermöglichen“, befindet der Professor. Wohl auch deshalb hat er sich Bettina Götze an die Seite holt. Sie ist mittlerweile im Ruhestand und hat die Leitung des Kulturzentrums abgegeben. „Als ich von Justus Eichstädt dieses Angebot bekam, musste ich nicht lange überlegen“, sagt sie.

Identifikation mit der Region

Wie die Arbeit von Bettina Götze in der Praxis aussehen kann, das hat Christian Daiber, CEO der Rathenower Optik GmbH, bei einem Blick ins ROWArchiv entdeckt. Er hat Pläne, Beschreibungen und Zeichnungen gefunden. Ebenso sind hier Fotos abgelegt. „Es gibt sehr viel, was man bei dem Projekt noch erforschen kann“, sagt Daiber. Sein Unternehmen sei gerne mit im Boot, wenn es darum gehe, Rathenows Geschichte in die Zukunft zu überführen. Daiber weiß, wie er den Standort Rathenow einschätzen muss: „Rathenow ist die Wiege der optischen Industrie in Deutschland, die Keimzelle des Clusters Optik und Photonik der Bundesländer Brandenburg und Berlin.“ Als größter Arbeitgeber der Region habe sein Unternehmen eine gesellschaftliche Verantwortung, sich an einem solchen Projekt zu beteiligen, das ja ein Stück weit auch Employer Branding im Sinne von Standortpflege und -marketing bedeute.

Justus Eichstädt formuliert die Basis, auf der Inora steht: „Die Verbindung von Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung ist eine wesentliche Grundlage. Es muss wieder in den Kategorien Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft und ihrer Verknüpfung am Optikstandort Rathenow gedacht werden.“ Das soll letztlich die Weiterentwicklung des Optik Industrie Museum Rathenows fördern und ebenso andere Aktivitäten, die den Optikstandort prägen. „Und damit werden“, sagt Eichstädt, „wichtige Grundlagen für die Identifikation der Menschen in der Region Rathenow gelegt.“

Für Bettina Götze hat nun die Arbeit begonnen. Sie sucht in Archiven in ganz Deutschland nach Material, das zur Optikgeschichte von Rathenow passt. Das ist mitunter mühsam. Wer Bettina Götze kennt, weiß, dass sie sich in diese Details vergraben kann. Das Projekt INORA ist zunächst auf zwei Jahre angelegt. Dann sollen erste Ergebnisse veröffentlicht werden.

Fotos: Joachim Willisch

Joachim Wilisch
© privat

Autor: Joachim Wilisch

ist seit 1996 als Reporter und Redaktionsleiter bei der Märkischen Allgemeinen Zeitung, Redaktion Rathenow und Westhavelland tätig. Der gebürtige Baden- Württemberger hat, seit er in Rathenow lebt, viel zu den Themen Optik geschichte und optische Industrie geschrieben.