Standards im Lernalltag nicht ausreichend Wie Augenoptiker Schulen für Sehbehinderte unterstützen können
10.11.2025
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Das BZBS in Hamburg
Erstveröffentlichung in der DOZ 11/2025.
Welche Herausforderung es sein kann, eine geeignete augenoptische Versorgung zu erhalten, weiß Aaron Bahr aus persönlicher Erfahrung. Der stellvertretende Schulleiter des Bildungszentrums für Blinde und Sehbehinderte (BZBS) hat eine angeborene, stark erhöhte Blendempfindlichkeit. Seine Sehbeeinträchtigung war frühzeitig erkannt worden. Als er selbst noch zur Schule ging, wurde sie bereits mit einer Kantenfilterbrille versorgt. „Aber ab einer gewissen Helligkeit brachte mir diese Sehhilfe gar nichts“, berichtet der 36-Jährige. „Dies habe ich auch immer wieder moniert, nur sah mein damaliger Augenoptiker keine andere Option. Er meinte, ich würde gar nichts mehr sehen, wenn er noch getönte Gläser einbauen würde.“
Für viele Jahre arrangierte sich Bahr deshalb mit dem unbefriedigenden Zustand. Es änderte sich, als er sein Studium der Sonderpädagogik abgeschlossen hatte. Nun war er fachlich dazu in der Lage, dem Augenoptiker das Problem verständlich beschreiben zu können. „Wir haben dann gemeinsam herumprobiert und so wurde es schließlich eine Kantenfilterbrille mit einer 90-prozentigen Tönung.“ Eine solche besitzt er seither also zusätzlich für Situationen mit starker Helligkeit, und diese Kombination hilft ihm. So kommt er im Alltag gut zurecht – sowohl im Gebäude als auch bei strahlendem Sonnenschein auf dem Schulgelände.
Dieses Beispiel verdeutlicht, woran es oft liegt, wenn eine augenoptische Versorgung von Kindern oder Jugendlichen mit Sehbehinderung nicht ausreicht: Getestet und erprobt wird diese unter standardisierten Bedingungen. Oft sieht es dann auch so aus, als wenn alles passt und sie ihren Zweck erfüllt. „Im schulischen Alltag treten jedoch auch noch ganz andere Situationen auf“, sagt Bahr. „Daher ist es erforderlich, jeden Einzelfall individuell auch in diesem Umfeld zu beurteilen und es zum Beispiel zu hinterfragen, wenn eines der Kinder sich in den Pausen vom Sonnenlicht zu sehr geblendet fühlt.“ Um eine optimale Versorgung zu erreichen, sollte daher ein Austausch zwischen allen Beteiligten gepflegt werden – nicht nur zwischen der Schule und den Eltern oder Erziehungsberechtigten, sondern ganz besonders zwischen dem betreuenden Augenoptiker und der Bildungseinrichtung.
Drei Pädagogen, die sich um die Förderung sehbeeinträchtigter Schülerinnen und Schüler kümmern: (v.l.) Aaron Bahr, Daniel Böker und Ute Feddersen würden sich dafür (noch) konstruktiveren Austausch mit den betreuenden Augenoptikern wünschen.
Was Augenoptiker beitragen können
„Wir würden es uns sehr wünschen, dass dies noch mehr erfolgt“, bestätigt Ute Feddersen vom Beratungsdienst des BZBS. Als Diplompsychologin und Orthoptistin ist sie die erste Ansprechpartnerin, an die sich Augenoptiker und betroffene Familien im Großraum Hamburg wenden können. Sie unterstützt mit ihrer Expertise bei der fachlichen Einschätzung und vermittelt dann den Kontakt zu den Klassenleitungen, den zuständigen Pädagoginnen oder Pädagogen – nicht nur am BZBS selbst, sondern bei Bedarf auch zu inklusiven Bildungseinrichtungen außerhalb davon.
„Auf der augenärztlichen Verordnung steht zum Beispiel nur ‚Kantenfilterbrille‘, jedoch geht daraus nicht hervor, ob – wie bei meinem Kollegen Herrn Bahr – eine zusätzliche Tönung nötig sein könnte“, erläutert sie eine generelle Problematik. „Oder es wird als Hilfsmittel eine ‚Lesebrille‘ verschrieben, jedoch nicht konkret bestimmt, welche Lupenbrille dem Kind im sonderpädagogischen Unterricht am besten helfen kann.“ Wenn also Eltern und Kind zu ihrem Augenoptiker gehen, bleibt die Schule außen vor, obwohl sie doch entscheidende Informationen beisteuern könnte. Denn bei den vereinzelten Gelegenheiten stellt sich heraus: „Wenn wir einbringen können, was im Schulalltag gebraucht wird, ist das auch für die Optikerinnen und Optiker entlastend. Deswegen sind wir ganz offen und beantworten alle Anfragen“, betont Ute Feddersen.
Umgekehrt freut sie sich über Anregungen und Impulse von den jeweiligen Augenoptikern. Hier gilt es, zwischen Sehexperten und Schule zielführend abzusprechen: Welche Versorgung nutzt das Kind und was nützt sie ihm im Unterricht? Im Gegenzug gibt das BZBS den betreuenden Augenoptikbetrieben Berichte oder Empfehlungen an die Hand. „Hier würden wir uns wünschen, dass eine konkrete Empfehlung für eine Sehhilfe dann auch konkret umgesetzt wird.“ Genauso sollten sich Augenoptiker melden, die feststellen, dass bei einem jungen Kunden aller verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen zum Trotz eine Sehbehinderung noch gar nicht versorgt wird. Man könne dann gemeinsam weitere Schritte abklären.
Die Bedeutung dieser Brückenfunktion unterstreicht BZBS-Schulleiter Daniel Böker. „Frau Feddersen erfüllt bei uns an der Schule eine zentrale Rolle, weil sie als Orthoptistin über die Diagnostik des Sehens und die Kommunikation mit den Pädagogen in den einzelnen Klassen einen ganz wesentlichen Beitrag für eine individuelle Förderplanung leistet. Dazu gehört auch eine entsprechende Ausstattung mit Sehhilfen und elektronischen Hilfsmitteln, die unsere Schülerinnen und Schüler benötigen.“
Der sogenannte Differenzierungsraum der BZBS: Hier wird die visuelle Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler mit besonderen, leuchtenden Hilfsmitteln gefördert.
Bei falscher Anwendung kann ein Hilfsmittel hinderlich sein
Generell steht für die Förderung von blinden oder sehbehinderten Kindern und Jugendlichen in der BZBS einiges an technischer Grundausstattung zur Verfügung. Nur gilt auch hier: Das Gerät muss individuell zur Lernsituation und den Bedürfnissen passen. Ute Feddersen erläutert es an einem Beispiel. „Am Laptop oder Tablet-PC arbeiten unsere Schülerinnen und Schüler ab der fünften Klasse. Im jeweiligen Einzelfall ist dann noch abzuwägen, was am sinnvollsten ist, um eine Vergrößerung einstellen zu können: Reicht dies aus, benötigt das Kind eher ein Bildschirmlesegerät oder doch lieber eine Lupenbrille?“ Auch hier zeigt sich, wie stark sich die Fachgebiete Pädagogik und Augenoptik überschneiden, weshalb beide Seiten hierzu genau miteinander kommunizieren sollten.
Hinzu kommt, dass die jungen Kunden ihre Sehhilfen oder/und elektronischen Hilfsmittel auch im privaten Umfeld nutzen. Hier können durch die unterschiedlichen Anforderungen gegenüber dem schulischen Umfeld durchaus Diskrepanzen auftreten, die ebenfalls zu berücksichtigen sind. „Wenn ein Schüler von seinem Augenarzt beispielsweise eine Lupenbrille verschrieben bekommt und in seiner Freizeit ganz viel liest, ergibt das natürlich Sinn“, verdeutlicht Aaron Bahr. Im schulischen Kontext jedoch sei dieses Hilfsmittel womöglich eher hinderlich, „weil hier am Notebook gearbeitet wird, bei dem sich bereits eine Vergrößerung einstellen lässt und dabei auch der Abstand zum Gerät gewahrt wird, die Ergonomie also stimmt“. Bei häufiger Nutzung einer Lupenbrille am Laptop wiederum könne es eher zu Haltungsschäden kommen, weil diese erst ab einer bestimmten Brennweite funktioniert.
Ausschlaggebend für den Bedarf ist auch, welche Bildungseinrichtung oder Schulform besucht wird. Dazu BZBS-Schulleiter Daniel Böker: „Hier bei uns am Borgweg sind der Unterricht, die Klassenräume und alle Medien komplett auf Sehbeeinträchtigungen zugeschnitten. Anders verhält es sich bei den inklusiven Schulen, an denen betroffene Kinder auch noch weitere eigene Hilfsmittel benötigen können.“
Mit Hilfe von Bildschirmlesegeräten wird das Lesegut an den individuellen Bedarf der Schüler angepasst. Dabei kann die Vergrößerung und auch die Farbdarstellung individualisiert werden.
Immer öfter: Zerebrale Beeinträchtigungen
Wie an den meisten vergleichbaren Einrichtungen werden auch am BZBS Schülerinnen und Schüler mit Blindheit, mit Sehbehinderung sowie mit hochgradiger Sehbehinderung betreut. Zugenommen hat in den vergangenen Jahren der Anteil an Kindern und Jugendlichen mit zerebraler Sehbeeinträchtigung (CVI = Cerebral Visual Impairment). Besonders hier kommt Ute Feddersen als Orthoptistin und Psychologin ins Spiel, um eine klare Diagnostik und entsprechende Förderung zu erreichen. CVI treten bei einer Fehlfunktion der Verarbeitung und Integration von visuellen Reizen im Gehirn auf. Die häufigsten Ursachen dafür sind Schädigungen aufgrund von beispielsweise Sauerstoffmangel oder Geburtskomplikationen. Auch kann es sich um genetisch bedingte Entwicklungsstörungen des Gehirns handeln.
Betroffene Kinder und Jugendliche fallen oft auf, weil sie unkonzentriert oder unaufmerksam sind und auch ihre schulischen Leistungen leiden. Voraussetzung für eine ganzheitliche Beurteilung der individuellen Sehbehinderung bei CVI und deren augenoptische Versorgung ist eine multidisziplinäre Zugangsweise, die neben der Augenheilkunde und Orthoptik auch die Neuropädiatrie, Neuropsychologie, Frühförderung, Sehbehindertenpädagogik beziehungsweise Schul- und Sonderpädagogik umfasst.
Blindenschulen in Deutschland
Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) schätzt, dass es mindestens 14.000 blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler in Deutschland gibt. Neben zahlreichen anderen Förderangeboten gibt es spezielle Blindenschulen, die auf die Bedürfnisse sehbeeinträchtigter Kinder eingehen und in meist öffentlicher Trägerschaft über 7.000 Schüler betreuen. Manche der deutschen Blindenschulen sind mittlerweile zur festen Institution in ihren Städten (im ländlichen Raum ist die Versorgung weniger gut) geworden: Die Johann-August-Zeune-Schule in Berlin ist Deutschlands älteste Blindenschule und wurde 1806 per Anweisung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. gegründet.
Zum Hamburger Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte (BZBS) von 1830 gehören heute eine Grundschule, eine Stadtteilschule sowie eine berufliche Abteilung mit einer Berufsvorbereitung, einer Handelsschule und einer Höheren Handelsschule. Als weiteren Bildungsstrang gibt es die spezielle Förderung bis einschließlich der elften Klasse. Dort beschult werden Kinder und Jugendliche mit komplexen Sehbeeinträchtigungen. Insgesamt besuchen derzeit circa 160 Schülerinnen das BZBS, sie kommen aus dem kompletten Großbereich der Hansestadt sowie ihrem Umland. Die zweite große Säule des BZBS besteht in der Beratung von Regelschulen. Dies betrifft weitere rund 100 Schüler.
Es liegt auch generell an der vermehrten oder verbesserten Diagnostik, dass Sehbehinderungen wie die CVI bei Heranwachsenden zuzunehmen scheinen. Mit anderen Worten: Sie werden eher häufiger erkannt. So konnte dieses Fachgebiet zwischen Augenoptik, Sehbehindertenpädagogik und Psychologie sich herausbilden und immer mehr Beachtung finden.
„Was für Augenoptiker noch wichtig sein könnte: Die offizielle Sehbehinderung ist sozusagen die Eintrittskarte zu unserer Förderung“, sagt Ute Feddersen. „Aber wir überprüfen immer bezogen auf den sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Sehen, in dem alle Einflussfaktoren eine Rolle spielen, um den individuellen Bedarf abzuschätzen. Das heißt, dass immer berücksichtigt wird: Wie nutzen die Schüler ihr Sehen im Unterricht und was muss für ihre Förderung an sehbehindertenpädagogischen Elementen beachtet werden?“
Die Schulleitung des BZBS spricht in diesem Kontext vom funktionalen Sehen, und dieses gehe über die klassischen Erhebungs- oder Testmethoden auf augenärztlicher Ebene hinaus. Dort werde alles am Fernvisus und am Gesichtsfeld festgemacht. Demgegenüber sei der sonderpädagogische Förderbedarf beim Sehen „weiter gefasst als die augenärztliche Bestimmung von Sehbeeinträchtigungen“, bringt es Daniel Böker auf den Punkt.
Seit den 1980er Jahren integrativ tätig
Am BZBS findet gemeinsamer Unterricht statt, man separiert also nicht nach Schwere der Betroffenheit. „Das könnten wir auch gar nicht, weil die Schülerzahlen dann doch sehr klein sind mit Lerngruppen von je acht bis 15 Personen“, stellt Aaron Bahr als stellvertretender Schulleiter fest. Die verwendeten Materialien werden auf die einzelnen Situationen und Bedarfe angepasst. Dies gilt auch für beide Schriftsysteme, also die Schwarzschrift und die Punktschrift, sodass jede Schülerin genau das Material bekommt, das für ihre Förderung benötigt wird. Mit Blick auf das funktionale Sehen werden die individuellen Voraussetzungen überprüft und idealerweise in die Kommunikation mit dem Augenoptiker einbezogen. Mit entsprechend angepassten Sehhilfen und elektronischen Hilfsmitteln werden die Kinder oder Jugendlichen dann gemeinsam beschult.
Die Hansestadt Hamburg wird im Jahr 2030 auf 200 Jahre Blindenbildung zurückblicken. Das demnach 1830 (von Bürgern als „Hamburger Blindenanstalt“) gegründete BZBS befindet sich seit 1893 in staatlicher Hand und ist als Schule seit den 1980er Jahren auch integrativ tätig, unterstützt also seither die gemeinsame Beschulung von blinden und sehbehinderten Heranwachsenden. „Für uns als Sonderschule ist es eine Herausforderung“, erklärt Böker. „Es gilt, diese gewachsenen Strukturen und Traditionen mit der modernen inklusiven Entwicklung zu vereinbaren.“