Eine Linse fürs Leben? Ortho-K-Selbstversuch nach 30 Jahren mit Brille

Erstveröffentlicht in der DOZ 11I22

Ich trage seit rund 30 Jahren eine Brille. Im Übrigen bin ich das lebende Beispiel, was eine lückenhafte Gesundheitsvorsorge für einen Menschen bedeuten kann: Weil in meiner Kindheit die Augen nicht rechtzeitig mit einer Sehhilfe versorgt wurden, sehe ich heute auf dem rechten Auge trotz Sehhilfe nur etwa 40 Prozent. Die Netzhaut hat die Bildverarbeitung schlichtweg nicht gelernt. Schicksalsergeben bin ich also seit Jahrzehnten Brillenträgerin. Seit meiner Ausbildung zur Augenoptikerin sind im Laufe der Jahre sicher um die 15 Fassungen zusammengekommen. Die Stärke hat sich seit Jahren nicht geändert. Ich trage Brillen auch als Stilmittel. Dass ich „etwas im Gesicht habe“ ist für meine Freunde und die Familie quasi charakterbildend geworden. Kontaktlinsen habe ich natürlich auch ausprobiert, formstabile und weiche. Die Anpassung erfolgte allerdings immer als Angestellte und ich kann nicht beurteilen, wie viel Anstrengung meine Kollegen investiert haben, denn bei meinen bisherigen Arbeitgebern war die Linse (leider) immer nur ein ungeliebtes Stiefkind. 

Tabelle mit den Werten der Probandin: Rechts ist nicht viel zu holen, links lauert ein innerer Astigmatismus.

© Hans Meißburger GmbH

Als ich das erste Mal als Journalistin über die Opti lief und auf Wolfgang Laubenbacher von Techlens traf, war die Frage nicht weit, warum ich als Kontaktlinsenredakteurin Brille trage. Meine Gründe (jucken und sind unbequem) konterte er mit der Frage: „Haben Sie schon einmal Ortho-K-Linsen ausprobiert?“ Hatte ich nicht. Und um ehrlich zu sein, hatte ich mich mit dieser Linsenform bis dato auch nicht eingehender beschäftigt. „Meine Augen sind zu kompliziert, zu schlecht und ohnehin, das würde nicht funktionieren“, schmetterte ich die Frage ab. Ortho-K-Linsen, der Begriff ruft bei jedem Marketingmanager Gänsehaut hervor. „Nachtlinsen“ klingt schon versöhnlicher, aber macht das Thema irgendwie nicht attraktiver. Ich recherchierte und trug sämtliche Fachartikel und Meldungen zusammen, die ich finden konnte. Das waren nicht wirklich viele, die auch für potenzielle Kundinnen verständlich sind. In der Tagespresse gibt es kaum etwas zu dem Thema und wenn, kommt meist gleich der große Zeigefinger mit Warnungen über fehlende Langzeitstudien und allgemeine Unzuverlässigkeit hinterher. Im Sommer besuchte ich schließlich eine Weiterbildung in München und entschied, das Ganze jetzt selbst auszuprobieren. Wolfgang Laubenbacher bot an, mich bei meinem Selbstversuch zu unterstützen. 

„Da wünsche ich dem Herrn Laubenbacher viel Erfolg“

Zwei Wochen bevor ich bei Techlens in München meine Ortho-K-Linsen abhole, müssen zunächst meine Augen vermessen werden. Der Augenoptikbetrieb Hans Meißburger GmbH in Durlach (bei Karlsruhe), Partner von Techlens und seit über 20 Jahren mit Ortho-K vertraut, nimmt sich der Sache an. Im Refraktionsraum sitzend, frage ich Ortho-K-Spezialist Daniel Fischbach, wie er die Sache einschätzt. Fischbach, auf meine Werte schauend: „Da wünsche ich dem Herrn Laubenbacher viel Erfolg.“ Denn, zurück zu meinen Werten: Abgesehen davon, dass meine Augen ohnehin der Alptraum eines jeden messenden Meisters sind, erlangt man bei mir auch kaum ein zufriedenstellendes Refraktionsergebnis, da nicht viel an Visus zu holen ist. Zumindest beim rechten Auge. Für Ortho-K-Linsen macht aber ausgerechnet das gute linke Auge Probleme. Dank eines inneren Astigmatismus sind meine Voraussetzungen nicht besonders erfolgversprechend. Die Ortho-K-Linse kann zwar die Sphäre und bis zu einem gewissen Teil auch den Astigmatismus reduzieren. Einen inneren Astigmatismus allerdings nicht. Mit niedrigen Erwartungen, aber ungebrochener Neugier erwarte ich also meine Linsen in München.

Tag 1. Endlich ist Tag X gekommen und bei Techlens erhalte ich meine Nachtlinsen. Das Aufsetzen läuft genau wie bei konventionellen formstabilen Linsen, ebenso das Absetzen. Da ich hier bereits erfahren bin, gibt es nicht so viel zu sagen. Lediglich, dass die Linse am besten direkt vor dem Zubettgehen aufgesetzt wird und zu diesem Zweck komplett mit Flüssigkeit gefüllt ins Auge gehen muss. Abends im Hotel setze ich die Nachtlinsen also ein. Es gibt keine Probleme, ich schlafe genauso gut wie immer. Als ich mich am nächsten Morgen auf den Weg zur Nachkontrolle mache, bin ich gespannt, wie sehr die Linse in ihrer ersten Nacht meine Hornhaut in Form gebracht hat. Der große Moment kommt, ich setze die Linse ab und ja, ich sehe zwar noch unscharf, aber doch um einiges schärfer als die vergangenen 30 Jahre. Ich erhalte noch sechs Eintageslinsen, zu jeweils −2, 00, −1,75 und −1,00 Dioptrien, bevor ich den Weg zu meinem Seminar antrete. Natürlich habe ich das Glück, in der letzten Reihe zu sitzen, aber mit der −2 Dioptrien-Linse ist das kein Problem.

Tag 2. Ich sitze in der Hotellobby und schaue nach draußen. In Gedanken lese ich das Schild auf der anderen Straßenseite, bis es mich wie Blitz und Donner trifft. Wahnsinn, ich kann das tatsächlich lesen. Zwar unscharf, aber erkennbar. Ich setze für den Tag im Seminar noch meine zwei Dioptrien ein, die ich im Anschluss entsorge. Ich kann es kaum abwarten, wie sich die nächsten Tage entwickeln.

„Was? Das muss ich auch ausprobieren, wie funktioniert das, was kostet das?“

Tag 3 und 4. Weiterhin trage ich während meines Seminars meine Eintageslinsen, aktuell −1,75 Dioptrien. Ich genieße es, eine lange im Schrank verstaubte Sonnenbrille ohne Korrektur zu tragen. Am vierten Tag lasse ich die Eintageslinse weg. Das Lesen im Seminar ist mühsam, aber machbar. Die anderen Seminarteilnehmerinnen wundern sich darüber, dass ich manchmal mit zusammengekniffenen Augen dasitze. Meine Erklärung „Ich teste Nachtlinsen“ trifft auf Staunen und Neugier: „Was? Das muss ich auch ausprobieren, wie funktioniert das, was kostet das?“ Im Seminar sitzen acht weitere Brillenträgerinnen und -träger, die es kaum glauben können, dass es so etwas wie Ortho-K („wie bitte heißt das?“) gibt. Ich werde in der Pause mit Fragen gelöchert. Skepsis ist nicht vorhanden. Das Thema hat mehr Potenzial, als ich es für möglich gehalten habe. Da ist ein ganzes Dimensionsloch an Potenzial und ich versuche es ein bisschen zu füllen. Hin und wieder schiebe ich mit dem Finger meine fehlende Brille hoch. Macht der Gewohnheit.

Tag 5 bis 10. Ich sehe deutlich besser in die Ferne, allerdings ist das Lesen weiterhin mühsam, die Buchstaben sehe ich doppelt. Meine Eintageslinsen sind aufgebraucht. Ich komme im Alltag zurecht, spüre aber Grenzen. Nachts Autofahren ist sehr mühsam. Je nach Tränenfilmqualität, sehe ich wie durch eine verschmierte Linse. Dazu die Halos um die Lichter. Da ich nachts sehr selten fahre, kann ich damit aber gut leben. Die Vorteile wiegen für mich auch schwerer. Ich genieße es, keine Brille zu tragen. Bei Regen freue ich mich wie ein kleines Kind darüber, dass ich keine vertropfte Fassung auf der Nase habe. Ebenso frei fühle ich mich beim Sport. Und auch das Maskentragen in der Straßenbahn ist ohne Brille angenehmer. In meiner ersten brillenlosen Zeit fühle ich mich ein bisschen wie Clark Kent von Superman, denn mir eigentlich bekannte Menschen erkennen mich nicht mehr auf der Straße. Die erste Fliege fliegt beim Radfahren in mein Auge und beim Anbraten einer Zwiebel und fiesen Fettspritzern bemerke ich, dass meine Brille zwar ständig dreckig war, aber eben auch viel „abgewehrt“ hat. In meinem Kopf ploppt eine Liste mit Brillen auf, die ich für die Zukunft dringend brauche: Sportbrille, Schutzbrille, Taucherbrille …

Tag 11 bis 21. Meine Kollegen gewöhnen sich an mein brillenloses Ich. Ich gewöhne mich leider nicht an die Doppelbilder und mache einen neuen Termin bei Daniel Fischbach. Man könnte die linke Linse noch mal anfertigen, sagt der Experte, sie sitzt womöglich etwas zu hoch. Die Schwierigkeiten in der Nähe könnten bedeuten, dass ich hier etwas überkorrigiert bin. Aber es kristallisiert sich auch heraus, dass ich einen Anwendungsfehler begangen habe: Ich habe die Linse nicht bis zum Rand mit Flüssigkeit gefüllt. Ein Aha-Effekt stellt sich ein und die beruhigende Gewissheit, endlich selbst etwas beeinflussen zu können. Ab sofort wird die Linse randvoll mit Kochsalzlösung ins Auge gesetzt. Das hier aber nicht das Problem liegt, lesen wir gleich.

"Ich brauche ein Mindestmaß an Planung."

Tag 22 bis 28. Ich schlafe auf dem Sofa ein und vergesse meine Nachtlinsen. Das Sehen war endlich so gut, um damit ganz normal zu leben. Morgens bin ich von einem auf den anderen Tag wieder ein Maulwurf. Meine Brillen passen natürlich nicht, Eintageslinsen habe ich mir noch keine besorgt. Ich klebe mit dem Gesicht am Computer, der Rücken schmerzt. Die Nachbarin grüße ich beim Spazierengehen nicht, (wie sie mir später beleidigt mitteilt) und ein Gefühl von Frust, das ich aber gleich wieder niederzwinge, stellt sich ein. Zwei Nächte mit Linsen später ist alles wieder klar. Puh.

Woche 5 bis 6. An zwei Tagen hintereinander wache ich mit schleimig verklebten Augen auf. Ich rufe Daniel Fischbach an und erhalte einen Termin zur Kontrolle. Ein Anruf bei Wolfgang Laubenbacher beruhigt mich. Er sagt, das komme manchmal vor. Ich solle die Linsen gut reinigen und weitertragen. Trotzdem lasse ich die Linsen zwei Tage draußen und lebe behelfsmäßig. Inzwischen weiß ich, wie die Effekte auf meine Augen sind und kann mich darauf einstellen. Den Fischbach-Termin sage ich wieder ab. An manchen Tagen bleibt das Sehen schlecht. Mit ein wenig Galgenhumor nenne ich sie „bad vision days“, analog zu „bad hair days“. An diesen Tagen sehe ich wesentlich schlechter als an anderen und ich komme nicht dahinter, woran es liegt. Scheitert mein Selbsttest? Das darf nicht sein, ich habe mich schon so an die Brillenfreiheit gewöhnt. Die Linsen kleben morgens oft sehr fest an meinen Augen. Wenn ich sie mit dem Sauger rausnehme, ist es unangenehm und das Sehen bleibt den ganzen Tag über mittelmäßig. Morgens beim Joggen, es ist dunkel, haben die Straßenlaternen Heiligenscheine. Der unkorrigierbare innere Astigmatismus ist wie eine böse Erscheinung, die mir mit dickem Pinsel den Visus verpfuscht. Aber ich hatte auch schon eine perfekte Woche zwischendrin. Ist es also wirklich so willkürlich, dass meine Physiologie hier so unzuverlässig ist? Falls ja, muss ich mit Ortho-K leider Schluss machen. Wie in jeder Beziehung brauche ich zumindest ein Mindestmaß an Planung. 

Bild der linken Hornhaut nach drei Wochen Tragedauer.

 

© Hans Meißburger GmbH

„Nachtlinsen? Schon mal gehört. Die drücken nachts das Auge zurecht?“

Woche 7 bis 10. Nachdem ich erneut ohne Linsen eingeschlafen bin und mein Sehen am folgenden Tag darauf bescheiden ist, beginne ich, meinen Seheindruck genau zu protokollieren. Ich fülle meine Linse abends mit Kochsalzlösung. Morgens wache ich mit verklebten Augen auf. Als das Aussetzen keine Besserung bringt, fülle ich abends meine Linsen mit Benetzungsmittel beziehungsweise Augentropfen. Am nächsten Morgen gehören meine Sehschwierigkeiten der Vergangenheit an. Da dämmert mir, wo das Problem liegt. Mein Tränenfilm ist nicht ideal. Seither fülle ich meine Linse abends mit Augentropfen. LipoNit hat sich für mich sehr bewährt. Das Ergebnis am nächsten Tag ist um Welten besser als mit Kochsalzlösung. Nichts klebt mehr. Da ich einen augenoptischen Hintergrund habe, bin ich selbst auf Spurensuche gegangen und habe keinen Termin beim Experten gebucht, der das sicher auch angesprochen hätte. Inzwischen kümmere ich mich auch tagsüber um meinen Tränenfilm und nutze Augentropfen. Zudem lege ich an manchen Abenden eine Wärmebrille auf meine Augen. Als Rundum-Alptraumkundin bemerke ich vergangene Woche, dass mein Pflegemittel leer ist. Natürlich war es später Abend. Da Optik Meißburger mit dem Auto 20 Minuten entfernt ist, musste ich auf einen Kollegen ausweichen, der noch geöffnet hatte und landete schließlich bei einem der größeren Filialisten. Das Verkaufsgespräch war kurz: „Was haben Sie für Linsen?“, fragt die freundliche Augenoptikerin. „Ortho-K-Linsen“, antworte ich. Es folgt eine Pause. Dann antwortet sie reserviert, halb fragend: „Schonmal gehört. Die drücken das Auge nachts zurecht?“ Ich nicke kurz angebunden. Es fühlt sich an, als hätte ich unanständige Linsen. Nachtlinsen, die kleinen Schmuddelkinder. Ich verlasse etwas verschämt, aber mit Linsenmittel das Geschäft. 

Einschub: Das macht es der Linse schwer ihre Wirkung zu entfalten!

Daniel Fischbach hat bereits zahlreiche Ortho-K-Linsen erfolgreich angepasst. Der Augenoptikermeister trägt selbst seit 13 Jahren Ortho-K und ist noch immer begeistert.

© Hans Meißburger GmbH

Was sagt Ortho-K-Experte Daniel Fischbach zu meinem Selbstversuch? Meine Probleme sind natürlich kein Einzelfall. Meine aktuelle Situation erklärt er wie folgt: „In Ihrem Fall hätte ich nicht von Ortho-K abgeraten, aber Sie vor den Schwierigkeiten gewarnt, die sie aktuell haben (das hat Wolfgang Laubenbacher zuvor natürlich getan; Anm. d. Red.). In Ihrem speziellen Fall ist es eine Kombination aus mehreren Dingen, die die Ausgangssituation nicht optimal machen: Sie haben sowieso schon einen starken Visus-Unterschied. Sollte die Linse am besseren Auge mal eine Nacht nicht so gut sitzen, gleicht das andere Auge das nicht aus. Für Ihre Hauptschnittwerte haben wir schon relativ flache Hornhautradien, das macht es der Linse schwer, ihre Wirkung zu entfalten. Dadurch muss die optische Zone relativ klein gestaltet werden und der Halo-Effekt um Lichter wird verstärkt. Der Hornhaut-Scan hat bei der Auswertung einen inneren Astigmatismus ergeben, der immer als Restrefraktion übrig bleiben wird. Das wirkt sich natürlich auf den Visus vor allem bei schlechtem Licht aus.“

Heute. Nach rund zweieinhalb Monaten sehe ich an den meisten Tagen gut. An manchen Tagen sehe ich wie durch einen leichten Film und werde das doch noch mal überprüfen lassen. Ansonsten ist mein Ritual: morgens zwischen Zähneputzen und dem ersten Kaffee meine Linsen rausnehmen, reinigen und in ihren Behälter legen. Abends, oft zu späterer Stunde und zuvor eingeschlafen zwischen zwei Kindern, muss ich mich oft dazu zwingen, die Linsen einzusetzen. Meine Familie hat sich an mein brillenloses Gesicht gewöhnt und meine Nachbarn sind über mein Experiment aufgeklärt. Größter Feind ist die geforderte Regelmäßigkeit, zu der ich mich manchmal aufraffen muss. Todmüde auf dem Sofa einschlafen ist gefährlich. Um vier Uhr nachts die Linsen einsetzen – das verzeihen die Augen am nächsten Morgen nicht und strafen mich mit Unschärfe. Für das Autofahren brauche ich noch einen Nachtlinsenpass, um meine Korrektur zu erklären. Für das Autofahren in der Nacht werde ich mir wohl noch eine Brille zulegen, die meinen inneren Astigmatismus ausgleicht. Dieser stört mich immerhin tagsüber selten.

Was bleibt. Dass ich tagsüber keine Sehhilfe mehr brauche, ist für mich eine der größten Veränderungen der vergangenen Jahre. Fast ein Einschnitt. Für mich gibt es vorerst kein Zurück mehr. Zudem habe ich auch keine Lust auf die Alternativen Brille oder Kontaktlinse. Ich genieße es sehr, tagsüber komplett ohne Sehhilfe zu sein. Wenn mein Tränenfilm mitspielt, habe ich inzwischen überwiegend ein gutes Ergebnis und das hat mich trotz einiger Startschwierigkeiten überzeugt. Ich freue mich jeden Morgen, meine Kontaktlinsen abzusetzen und in den Tag zu starten. Auch wenn das Sehen manchmal nicht ganz ideal ist. Dafür spiele ich nachts gerne mit den Schmuddelkindern. Meine Nachtlinsen und ich sind auf einem guten Weg, gemeinsam alt zu werden.