Neues Buch im DOZ-Verlag: „Hörakustik Anpassfälle“

Die „Wüste im Ohr“ und andere spannende Herausforderungen

Das neue Buch der Hörakustik-Experten Jens Ulrich und Johannes Burkart ist kürzlich im DOZ-Verlag erschienen. Auf 150 Seiten beleuchtet das Fachbuch den facettenreichen Alltag in der Hörakustik – mit einem ganz konkreten Fokus auf die Praxis. In 19 spannenden Anpassfällen zeigen die Autoren nahezu detektivisch auf, welche Wege und Herausforderungen Kunden zum Hörakustiker führen. DOZ-Redakteurin Nicole Bengeser sprach mit Johannes Burkart darüber, wie ein Hörverlust bemerkt wird und warum es in der „Wüste im Ohr“ so still bleibt.
Maus in der Wüste

Nicht jeder kommt mit der Wüste im Ohr so gut klar wie die kleine Wüstenspringmaus, der die Ohren allerdings nicht nur zum Hören, sondern auch zur Wärmeregulierung dienen.

© Adobe Stock / Leli, generiert mit KI

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Erstveröffentlichung in der DOZ 01|2025

DOZ: Herr Burkart, warum fasziniert Sie das Ohr?
Johannes Burkart: Das Ohr fasziniert mich durch seine Fähigkeit, Schwingungen, Emotionen und Informationen über den akustischen Weg zu transportieren. Das Sprichwort „Der Ton macht die Musik“ beschreibt, wie Klang und Intonation im Alltag zur Kommunikation und Verständigung beitragen – oft subtil, aber entscheidend. Das Ohr eröffnet uns eine akustische Welt, die Konflikte entschärfen und neue Lösungswege aufzeigen kann. Es vermittelt nicht nur Sprache, sondern auch Gefühle und spielt eine zentrale Rolle im zwischenmenschlichen Austausch. Mein Ziel ist es, die Hörakustik zu unterstützen und Menschen ein noch besseres Hörerlebnis zu ermöglichen.

Es ist laut im Restaurant, ich habe Mühe, meiner Nachbarin – die mir nur eine Armlänge entfernt gegenübersitzt – zu folgen. Habe ich nur einen schlechten Tag oder sollte ich bei Ihnen vorbeischauen?
Wenn Sie regelmäßig Schwierigkeiten haben, Sprache in lauter Umgebung zu verstehen, kann dies ein Hinweis auf eine beginnende Hörminderung sein. Eine schleichende Hörminderung zeigt sich oft zuerst bei hohen Frequenzen, was das Verstehen von Sprache im Störlärm erschwert. Häufig wird das Problem zunächst als Tagesform oder persönliche Befindlichkeit abgetan. Tritt es jedoch häufiger auf und Sie bemerken, dass Sie oft nachfragen oder sich besonders konzentrieren müssen, ist es sinnvoll, Ihr Gehör überprüfen zu lassen. Ein Hörakustiker kann gezielt feststellen, ob eine leichte Hörminderung vorliegt, die über die normalen Alltagsbelastungen hinausgeht. Rechtzeitig erkannt und richtig versorgt, kann Ihre Höranstrengung in geräuschvollen Situationen deutlich reduziert und Ihr Sprachverstehen verbessert werden.

Wann sollte man überhaupt einen Hörakustiker aufsuchen?
Hörprobleme können in jedem Alter auftreten und beginnen oft schleichend. Unser Buch unterstreicht die Bedeutung regelmäßiger Vorsorgeuntersuchungen, auch wenn zunächst keine deutlichen Einschränkungen wahrgenommen werden. Typische Anzeichen sind zunehmende Anstrengung und Ermüdung beim Zuhören, was sich auf die Konzentrationsfähigkeit auswirken kann. Im Alltag zeigt sich eine beginnende Hörminderung oft zuerst beim Telefonieren: Zunächst wird vielleicht die Freisprecheinrichtung zugeschaltet, dann greift man zum beidohrigen Headset, um besser verstehen zu können. Irgendwann merkt man, dass das Hören schwieriger geworden ist und dass diese Ausweichmechanismen nur eine fragile Brücke sind. In solchen Fällen kann ein Hörtest helfen, eine Hörminderung rechtzeitig zu erkennen und gezielt gegenzusteuern.

Gefragt ist kurative Aufklärung, die im Alltag ein Bewusstsein für die Hörgesundheit schafft

Was können Hörakustikerinnen tun, um die Aufmerksamkeit der Menschen darauf zu lenken, nicht nur auf sportliche Fitness und gutes Sehen zu achten, sondern auch auf ihre Ohren?
Hörakustiker können insbesondere Personen in lärmintensiven Berufen, wie zum Beispiel Zimmerer, über den Umgang mit Lärm und die Notwendigkeit von Gehörschutz aufklären. Ein individuell angepasster Gehörschutz, etwa ein Kapsel- oder ein dynamischer Gehörschutz, kann das Gehör präventiv vor schädlichem Lärm abschirmen, ohne das Sprachverstehen zu beeinträchtigen. Beim Einsatz von Hörgeräten an Lärmarbeitsplätzen berät der Hörgeräteakustiker auch über Kombinationslösungen, die sowohl das Gehör rehabilitativ unterstützen als auch den notwendigen Schutz und die Wahrnehmung von Warnsignalen gewährleisten. Darüber hinaus kann eine kurative, das heißt allgemeine, Aufklärung über die Vermeidung von Hörstress und Lärmschäden über die Medien erfolgen und so ein Bewusstsein für die Hörgesundheit im Alltag geschaffen werden.

Wie kam es, dass Sie nun ein Buch gemeinsam mit Jens Ulrich geschrieben haben?
Schon während meiner Meisterprüfungsvorbereitung habe ich viel aus den Werken von Jens Ulrich gelernt. Er ist ein Autor mit großem sozialem Engagement und der besonderen Fähigkeit, sein Wissen praxisnah zu vermitteln. Über ein Online-Forum für Hörakustiker sind wir vor etwas über zehn Jahren in Kontakt gekommen und ich hatte 2013 die Möglichkeit, an einem Video-Podcast der Reihe „Hörakustik lernen + wissen“ mitzuwirken. Während meines Masterstudiums und später in der Promotionsphase blieb ich im Hintergrund mit Jens Ulrichs Projekten verbunden und konnte vereinzelt Material für Artikel beisteuern, zum Beispiel 2017 für „Hörakustik 3.0“ und voriges Jahr für „Hörakustik Praxis“. Da mein Beruf und mein Studium damals viel Raum einnahmen, war mein Beitrag begrenzt. Jetzt haben wir uns für ein gemeinsames Buchprojekt zusammengefunden – eine Entscheidung, die eher spontan und ohne viele Worte gefallen ist. Unsere inhaltlichen Vorstellungen stimmten überein und wir waren uns schnell einig, dass wir dieses Buch gemeinsam herausgeben wollten. Die Zusammenarbeit verlief von Anfang an reibungslos und respektvoll, ganz im Sinne von „Senpai und Sensei“.

In ihrem Buch „Hörakustik Anpassfälle“ beschreiben Sie viele alltägliche Geschichten von Menschen, die bei Ihnen Hilfe gesucht haben. Welcher der Fälle ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben und aus welchem Grund?
Ein besonders eindrucksvoller Fall aus dem Buch ist die Geschichte eines 20-Jährigen, der nach einer Krebsbehandlung mit einem ototoxischen Medikament einen hochgradigen Hörschaden erlitt. Zunächst wurde er beidseitig mit Hörgeräten versorgt, doch nach einem ersten Hörsturz wurde ihm auf einem Ohr ein Cochlea-Implantat eingesetzt, um eine bimodale Versorgung anzustreben. Noch während des Klinikaufenthalts erlitt er jedoch einen erneuten Hörsturz und ertaubte auch auf dem zweiten Ohr. Zu diesem Zeitpunkt war sein CI-Ohr noch frisch operiert und verbunden, so dass er plötzlich völlig taub war. Um ihm schnellstmöglich einen Zugang zum Hören zu ermöglichen, wurde ein sogenanntes „Early Switch-On“ am CI-Ohr in Kombination mit einer CI-CROS-Lösung angepasst. Diese Übergangsversorgung ermöglichte ihm erste Hörerfahrungen. Später wurde auch das zweite Ohr mit einem Cochlea- Implantat versorgt, wodurch sich sein Richtungshören und sein Sprachverstehen im Störgeräusch deutlich verbesserten. Dieser Fall zeigt eindrucksvoll, wie eine komplexe und individuell angepasste Hörversorgung Betroffenen trotz schwerster Einschränkungen aktive Teilhabe am Leben und eine hohe Lebensqualität zurückgeben kann.

Komplexe und individuell angepasste Hörversorgung kann Betroffenen hohe Lebensqualität zurückgeben

Was hat es mit dem Anpassfall „Wüste im Ohr“ auf sich? Können Sie das ein wenig erklären?
Der Fall „Wüste im Ohr“ beschreibt Regionen in der Cochlea, in denen Haarzellen so stark geschädigt sind, dass sie keinen Schall mehr verarbeiten können. Diese „toten Zonen“ entstehen häufig durch Lärmschäden oder altersbedingten Verschleiß. Ein normales Hörgerät reicht hier meist nicht aus, da es selbst bei erhöhter Lautstärke kein Sprachverstehen ermöglichen kann. Stattdessen helfen spezielle Anpassungen wie Frequenzkompression oder -transposition. Dadurch kann der Schall in intakte Bereiche umgeleitet werden, sodass die Wahrnehmung von Sprachlauten trotz dieser „Wüstenbereiche“ verbessert wird.

Jeder Anpassfall wird detailliert mit Ton- bzw. Sprachaudiogrammen begleitet. Sie konzentrieren sich zudem auf die Außeneinwirkung von typischen Geräuschen in der Arbeitsumgebung Ihrer Kundinnen und Kunden. Wie wichtig sind sogenannte In-situ- Anpassungen für die optimale Versorgung mit einem Hörgerät?
In-situ-Anpassungen sind entscheidend für die individuelle Feinabstimmung eines Hörsystems und unverzichtbar für eine optimale Hörversorgung. Die Verwendung von Otoplastiken kann die natürliche Resonanz des Gehörgangs verändern und führt häufig zu einem störenden Verschlusseffekt, bei dem die eigene Stimme als unangenehm empfunden wird. In-situ-Anpassungen ermöglichen es, diesen Effekt zu minimieren, indem sie die akustischen Eigenschaften des individuellen Gehörgangs berücksichtigen und die Verstärkung präzise anpassen. Darüber hinaus hilft die In-situ-Anpassung, die Verstärkung in den relevanten Frequenzbereichen zu optimieren, Rückkopplungen zu reduzieren und die Klangqualität zu verbessern. Da die Anpassung direkt im Gehörgang des Patienten erfolgt, können Faktoren wie Resonanzfrequenzen und Gehörgangsgeometrie genau berücksichtigt werden. Dies verbessert sowohl den Tragekomfort als auch die Klangqualität und ist entscheidend für die Akzeptanz und den täglichen Gebrauch des Hörsystems.

Bilden die vorgestellten Fälle die ganze Bandbreite des Berufsalltags ab?
Unser Ziel war es, eine Auswahl alltäglicher und spezieller Fälle zusammenzustellen, die den Lesern einen fundierten Überblick und wertvolle Einblicke in den Berufsalltag bieten. Insofern geben die 19 Fallbeispiele einen umfassenden Einblick in die Vielfalt der Versorgungssituationen und Herausforderungen des hörakustischen Alltags. Sie umfassen typische Versorgungen wie die Anpassung bei Altersschwerhörigkeit, die besonderen Anforderungen bei der Versorgung von Kindern oder den Umgang mit komplexen Hörstörungen durch ototoxische Medikamente oder Lärmexposition. Dennoch kann ein Buch nicht das gesamte Spektrum dieses vielseitigen Berufs abbilden. Denn die Hörakustik ist ständig neuen Anforderungen und Entwicklungen unterworfen, die Praxis zeigt immer wieder neue, individuelle Herausforderungen, die – je nach Patient, Hörschädigung und Umfeld – sehr unterschiedlich sein können.

Das Gespräch führte Nicole Bengeser

 

Johannes Burkart
© privat

Unternehmer, Dozent, Fachautor und Gutachter: Dr. Johannes Burkart, M.Aud., Jahrgang 1985, begann seine Karriere mit einer Ausbildung zum Hörakustiker, gefolgt von der Meisterprüfung. Anschließend studierte er Hörakustik und Augenoptik an der Hochschule Aalen und erwarb zusätzlich einen Master in Gesundheitsökonomie an der SRH Fernhochschule in Riedlingen. An der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg promovierte er zum Dr. sc. hum. Weiter qualifizierte er sich mit einem Master in Clinical Audiology and Hearing Therapy (M.Aud.) an der Universidad Isabel I in Burgos, Spanien. Derzeit leitet Burkart die Audiologie am Universitätsklinikum Mannheim sowie an der Ohren klinik des Heilig-Geist-Hospitals in Bensheim. In der Hörakustikbranche ist er als Unternehmer, Dozent, Fachautor und Gutachter tätig, der seine vielseitige Expertise in verschiedenen Bereichen der Branche einbringt.