HHVG: Nachgehakt bei Professor Dr. Bernd Bertram

Professor Dr. Bernd Bertram, Vorsitzender des Berufsverbandes der Augenärzte (BVA)
Professor Dr. Bernd Bertram, Vorsitzender des Berufsverbandes der Augenärzte (BVA)
© Ärztekammer Nordrhein

Das Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (HHVG) ist am 11. April 2017 in Kraft getreten. Menschen mit Sehschwäche haben wieder Anspruch auf einen Zuschuss der gesetzlichen Krankenkasse zur Sehhilfe. Doch die Euphorie bleibt aus. Die DOZ fragt bei Professor Dr. Bernd Bertram, Vorsitzender des Berufsverbandes der Augenärzte (BVA), nach.

DOZ: Herr Professor Bertram, als Vorsitzender des Berufsverbandes der Augenärzte haben Sie sicher eine andere Meinung zur Änderung des Heil- und Hilfmittelversorgungsgesetzes als mancher Augenoptiker, oder?

Prof. Bernd Bertram: Die Gesetzesänderung ist für die Versicherten, die es betrifft, sehr gut, auch wenn die Dioptrien-Werte, ab denen die gesetzlichen Krankenkassen in Leistung treten, nach meiner Meinung zu hoch sind. Das Gesetz ändert die Hilfsmittelrichtlinie nur durch Ausweitung auf eine weitere Gruppe von Anspruchsberechtigten. Leider wird diese an manchen Stellen noch komplizierter als schon vorher, obwohl die meisten Regelungen gut und klar formuliert sind und die meisten Belange im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben vernünftig regeln. Aber zum Beispiel bei der Kontaktlinsenversorgung gibt es zu viele verschiedene Grenzwerte, die im Einzelfall berücksichtigt werden müssen.

Sie sagen, es ist gut formuliert,  aber beispielsweise an dem Wort „verordnen“ scheiden sich die  Geister, so dass nicht sicher ist, ob der Versicherte zum Augenarzt gehen muss, um die Krankenkassenleistung nutzen zu können.

Verordnen kann nur ein Arzt, das ist Juristendeutsch und eindeutig. Richtigerweise steht dort nicht, „vom Arzt verordnet“, denn das wäre ein Pleonasmus wie zum Beispiel der weiße Schimmel. Das Gesetz sagt klar, dass eine vom Augenarzt verordnete Fernrefraktion mit bestimmten Dioptrienwerten vorliegen muss, wenn die Krankenkasse zahlen soll. Bei der Folgeversorgung könnte ich mir einen Kompromiss vorstellen, sodass die erwachsenen Patienten innerhalb von beispielsweise ein oder maximal zwei Jahren auch ohne  erneuten Besuch beim Augenarzt eine neue Brille mit Krankenkassenleistung erhalten können, wenn der Optiker keine Sehminderung oder deutliche Refraktionsänderung feststellt.

Es gibt Augenoptiker, die fürchten, die Augenärzte beziehungsweise der Gesetzgeber wolle ihnen das Refraktionsrecht nehmen. Können Sie das nachvollziehen?

Das ist doch Quatsch. Sie werden doch sicher bestätigen, dass vor Ort  Augenärzte in aller Regel sehr gut mit Augenoptikern zusammenarbeiten, weil die große Mehrheit der Augenoptiker die Grenze ihrer Profession beachtet und nicht versucht, in die Augenheilkunde einzudringen. Natürlich gibt es bei Refraktionen auch gelegentlich Fehler auf beiden Seiten, aber eigentlich funktioniert die Zusammenarbeit ziemlich gut. Ich habe kein Problem damit, dass Augenoptiker refraktionieren, im Gegenteil, ich fände es problematischer, wenn alle Patienten mit leichten Sehfehlern oder einfacher Presbyopiekorrektur für jede Brille eine Augenarztverordnung benötigen würden. Wir wollen leben und leben lassen, das reine Refraktionieren von einfachen Fällen kann man lernen. Allerdings hat der Augenarzt den entscheidenden Vorteil, dass er den morphologischen Befund, Augenkrankheiten und allgemeine Krankheiten bei seiner Refraktion und insbesondere der Auswertung kennt und diese bei seiner Therapieentscheidung mit einbeziehen kann. Deswegen landen kompliziertere Fälle und auch viele andere Refraktionen doch meistens ohne hin wieder bei uns. Jeder Augenarzt, der nicht gerade an diesem Tag operiert, refraktioniert jeden Tag viele Patienten, weil er diese funktionellen Ergebnisse zur Diagnosestellung, Verlaufskontrolle und Indikationsstellung für mögliche Therapien braucht. Von diesen Patienten bekommt dann nur ein kleiner Teil eine Brillenverordnung.

Erwarten Sie aufgrund der Gesetzesänderung Probleme und Umständlichkeiten für die Versicherten und erhöhte Kosten für die Krankenkassen?

Nein, im Gegenteil. Die betroffenen Patienten begrüßen sehr, dass ihnen die Brillenglaskosten wieder erstattet werden. Gerade für die stark Fehlsichtigen sind regelmäßige Besuche beim Augenarzt nicht umständlich, sondern unerlässlich. Deswegen ist nur für wenige Patienten ein zusätzlicher Augenarztbesuch wegen der Verordnung nötig. Vielen hochgradig Fehlsichtigen ist mit einer neuen Brille nicht geholfen, zum Beispiel liegt einem Sehfehler mit einem hohen Astigmatismus sehr häufig eine Krankheit zugrunde. Bei pathologischen Myopien ab sechs Dioptrien, die den größten Teil der neuen Gruppe ausmachen, bestehen häufig Augenkrankheiten, wie die Krankheitsbezeichnung schon sagt. Da darf nichts verschlafen werden, indem eine neue Sehhilfe refraktioniert und angepasst wird, ohne eine Krankheit als Ursache für die Veränderung auszuschließen. Und wenn jemand krank ist oder ein relevantes Risiko für eine Krankheit besteht, dann gehört er in die Betreuung des Augenarztes.

Und die Kosten?

Die Kosten werden durch die wenigen zusätzlichen Augenarztuntersuchungen nicht steigen, weil die Krankenkassen für die ambulante ärztliche Versorgung eine Gesamtvergütung unabhängig von der wirklichen Inanspruchnahme zahlen, also gewissermaßen für die Patienten eine Flatrate –  auch beim Augenarzt – ausgehandelt haben. Die Krankenkassen haben auf der anderen Seite eher Probleme damit, dass ohne einen Verordnungsvorbehalt des Arztes der Augenoptiker einen Freifahrtschein bekommt, in dem er ohne diese Begrenzung häufig einen Berechtigungsschein ausstellen kann und damit der Krankenkasse höhere Kosten beschert. Allerdings muss an dieser Stelle auch einmal gesagt werden, dass die Festbeträge, zu denen die Augenoptiker liefern sollen, dringend überprüft werden sollten. Diese sollten auf eine passende Höhe gebracht und die Regelungen so angepasst werden, dass dem Kunden taugliche Brillengläser inklusive aller sinnvollen Extras von den Kassen zu einem adäquaten Preis bezahlt werden, damit nicht die Honorierung des Augenoptikers durch Aufdrängen von unsinnigen Extras erfolgt.

Letztlich sind aber doch Probleme im Alltag zu erwarten, etwa, wenn ein Fehlsichtiger mit einer defekten Brille zunächst auf einen Termin beim Augenarzt warten muss.

Es wird nur Probleme im Alltag für Ideologen geben. Die Gesetzesänderung betrifft Menschen, die ohnehin eher zum Augenarzt gehen, zumindest dorthin gehören. Es fallen weniger als drei Prozent aller Fehlsichtigen darunter. Seit Mitte Februar habe ich in meiner Praxis in zwei Monaten sieben Verordnungen ausgestellt, die diese neue Regelung betreffen. Und dass es beim Augenarzt keinen Termin gäbe, ist lächerlich. Richtig ist, man bekommt manchmal nicht den Wunschtermin bei seinem Wunsch-Augenarzt, aber sehr wohl fast immer zeitnah einen Termin bei einem Augenarzt in erreichbarer Nähe. Zum Glück hat sich diese Diskussion weitgehend erledigt, seitdem die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen Anfang 2016 ihren Dienst aufgenommen haben und einen Termin innerhalb von vier Wochen garantieren. Die Auswertung von deren Daten hat ergeben, dass bei den Terminservicestellen in ganz Deutschland nur circa 5000 Augenarzttermine in einem Jahr nachgefragt wurden, also weniger als ein Termin pro Augenarzt in einem Jahr; und von diesen Augenarztterminen waren viele noch nicht einmal dringlich. Außerdem behandelt jeder Augenarzt jeden Tag einige Notfallpatienten. Nein, es wird keine ernsthaften Probleme geben, zumal dem Patienten, der regelmäßig beim Augenarzt in Kontrolle ist, bei einer defekten Brille auch teilweise mit wenig Untersuchungsaufwand geholfen werden kann.