Mehr als nur ein Briefkopf

Sachverständiger: der öffentlich bestellte und vereidigte Spurensucher

Wenn jemand 100 Kilometer weit fährt, um ein Fernrohr auf einer optischen Bank auszumessen, mit richterlicher Erlaubnis die immer gleiche Brille aus verschiedenen Höhen auf den Boden fallen lässt oder Produktpiraterie nachgeht, dann muss derjenige wohl für seine Aufgabe brennen. Die Rede ist von Konrad Enzel, öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger. Die DOZ sprach mit ihm darüber, welche Kenntnisse man als Sachverständiger benötigt und welchen Mehrwert seine Tätigkeit für Augenoptikerinnen und Augenoptiker hat.
Verstaubte Brille
© Adobe Stock / wachwit

Erstveröffentlicht in der DOZ 12I2021

Wie wird man Sachverständiger? „Eigentlich reicht es, das Wort auf seinen Briefkopf zu drucken, denn der Begriff ist nicht geschützt“, erklärt Konrad Enzel schmunzelnd. Doch Spaß beiseite: Bei Augenoptikermeister Enzel, der zwischen 1977 und 2010 im eigenen Betrieb in Heilbronn arbeitete und zeitweise WVAOVorsitzender der Landesgruppe Mittel- und Unterfranken sowie Obermeister der Innung Nordwürttemberg war, handelt es sich um einen der etwa 70 öffentlich bestellten und vereidigten (ö.b.v.) Sachverständigen im Bereich Augenoptik. Diese Sachverständigen haben ihr Wissen durch Fortbildungskurse und Prüfungen bewiesen und wurden – wie der Name schon sagt – öffentlich bestellt und vereidigt. „In meinem Fall hat noch die Handwerkskammer die tragende Rolle gespielt und mich berufen, inzwischen werden Kurse und Prüfungen über den Zentralverband der Augenoptiker und Optometristen abgelegt“, erläutert Enzel.

Die Kurse werden nach Bedarf festgelegt und die Prüfungen von bereits etablierten Sachverständigen abgenommen. Als Voraussetzungen nennt der Augenoptikermeister überdurchschnittliche Kenntnisse im augenoptischen Beruf, Kursbesuche über den Ablauf und das Reglement von Gerichtsverfahren und sehr gute Deutschkenntnisse für die Einarbeitung in die Gerichtssprache, -akten und die Gesetzeslage. Nicht zuletzt muss ein „ÖBV“ die eigenen Worte sehr diplomatisch wählen und schwierige Sachverhalte auch fachfremden Personen verständlich erläutern können.

Die Initialzündung für Enzel, Sachverständiger zu werden, entstand ausgerechnet vor Gericht. Eine Kundin in seinem Geschäft hatte die Einarbeitung ihrer Gläser in Stärke -10 dpt moniert. Enzel hatte die Facette nicht nach vorn oder hinten verlegt, sondern diese bewusst mittig gelegt. Auf diese Weise kam es bei ihren dicken Gläsern zu einem Glasüberstand vorn und hinten, woraufhin die Kundin einen Prozess anstrengte. Enzel vertrat sich selbst und gewann. Der anwesende, vom Gericht hinzugezogene Sachverständige sprach ihn nach Prozessende an: Enzel hatte so gut argumentiert, dass der Experte ihm nahelegte, selbst Sachverständiger zu werden. Enzels Interesse war geweckt ...

Seitdem wird auch der Heilbronner Augenoptikermeister angerufen, wenn ein Gutachter benötigt wird. Der Ablauf ist dabei wie folgt: Wenn ein Richter fachlich an seine Grenzen stößt, kann dieser von der zuständigen Handwerks- oder Industrie- und Handelskammer eine Liste der umliegenden Gutachter anfordern, die er kontaktiert. Alternativ kann Enzel auch als Privatgutachter angefragt werden, was meist über die Handwerkskammer oder Innung geschieht. Zum größten Teil handelt es sich hier um Gleitsichtgläserkunden, die mit ihrer Brille nicht zurechtkommen. Gleichzeitig sollen aber hohe Kosten durch Anstrengung eines Prozesses vermieden werden, weshalb oftmals ein kleiner Hinweis ausreiche. Zu beachten sei bei den Privatgutachten, dass keine rechtliche Beratung stattfinden dürfe.

Manchmal ist beim Gerichtsprozess keine "richtige" Antwort möglich

Grundsätzlich nehme die Häufigkeit der Anfragen nach Gutachten laut Enzel etwas ab, da der Streitwert in der Augenoptik oft gering ist. Zu Hochzeiten kam es circa zwei- bis dreimal pro Jahr vor, dass ein Richter ihn zurate zog. Nimmt man den Gutachtenauftrag an und ist der Abgabetermin vereinbart, erhält man die Gerichtsakten. „Früher füllte das ganze Schreibtische, inzwischen liegen meist E-Akten vor,“ erinnert sich der Gutachter. „In der Akte ist eine Frage formuliert. Wenn man diese beantworten kann, muss man nur noch der Bearbeitung des Falles zustimmen.“ Es sei aber auch schon vorgekommen, dass die Frage so formuliert war, dass keine „richtige“ Antwort möglich war. „Dann muss ich Kontakt mit dem Richter aufnehmen und besprechen, wie sie umzuformulieren ist, um sie klar beantworten zu können. Die Kompetenz des Richters darf dabei nicht angezweifelt und die eigenen Formulierungen sollten vorsichtig gewählt werden.“ Der Richter habe die notwendige Sachkenntnis nicht und erfahre eine Hilfestellung durch den Sachverständigen, der ihm diesbezüglich zuarbeitet. Aus diesem Grund gibt es Sachverständige in fast allen Gebieten, die vom Gericht angefordert werden können.

Konrad Enzel im Außendienst

Als aktives Mitglied im Entwicklungsdienst deutscher Augenoptiker (EDA) vermittelt Konrad Enzel die korrekten Arbeitsweisen im Augen optikhandwerk im In- und Ausland; hier bei einem Einsatz in Uganda.

© privat

Wichtig sei, dass die ausgefertigten Gutachten immer klar begründet, sowie möglichst hieb- und stichfest seien. Aktuelle Verordnungen, Vorschriften und Kenntnisse müssen umgesetzt sein. Wichtig, gerade wenn die zweite Partei ein Gegengutachten vorlegt. Auch Enzel befand sich in einer solchen Situation. Der Gegengutachter wurde von einer Versicherung hinzugezogen, war allerdings kein vereidigter und bestellter Sachverständiger. Vor Gericht war er jedoch nicht mehr bereit, sein ausgefertigtes Gutachten gegen das von ÖBV Enzel vorzulegen.

Fassungskopie, ungenaue Fernrohre, fallende Brillen, Unfallspuren

Die Fälle, in denen Enzel angefordert wird, unterscheiden sich zum Teil deutlich voreinander. Einmal war er gar in einen Prozess über das Design von Brillenfassungen eingebunden. Eine Firma hatte Fassungen auf den Markt gebracht die exakt einem bestehenden Produkt glichen und er musste der Fragestellung nachgehen, wer von wem kopiert hatte und ob überhaupt kopiert wurde.

In einem anderen Fall wurde ein astronomisches Fernrohr über das Internet gekauft. Der Käufer war jedoch der Meinung, dass das Gerät nicht klar abbilden würde; es musste durchgemessen werden. Drei vorher angefragte Gutachter hatten den Fall schon abgelehnt, bis man an Enzel herantrat. „Ich konnte jemanden ausfindig machen, der eine optische Bank in entsprechender Größe hatte, um das Fernrohr zu testen (siehe Bild unten). Ich bin dafür etwa 100 Kilometer einfache Strecke gefahren, um meine Antwort zu erhalten. Man muss eben manchmal kreativ sein – das macht einen guten Gutachter aus. Ich habe mich immer den Dingen gestellt und gefreut, mit Erfindergeist herauszubekommen, wo ich Daten herbekomme.“ Im Falle des Teleskops hieß das, durch Fotos dessen Abbildungsqualität zu dokumentieren. „Nach den Fotos und Erläuterungen folgt der Schnitt: ein Sachverständiger muss sich hüten, Schlüsse zu ziehen. Dies muss er dem Gericht überlassen.“

Fernrohr

Das beanstandete Fernrohr bei der Prüfung auf der optischen Bank.

© privat

Die Ausstattung im eigenen Geschäft reichte ansonsten jedoch fast immer aus, um den gestellten Fragen auf den Grund zu gehen. Etwas aufwendiger wurde es, als es um eine heruntergefallene Brille ging. Diese hätte nach Ansicht des Brillenträgers den Sturz aus vorliegender Höhe unbeschadet überstehen müssen. In Absprache mit dem Richter, der auch für die Klärung der Kosten zuständig ist, führte Enzel eine Serie von Tests durch, um die Bruchsicherheit besagter Brille aus verschiedenen Fallhöhen zu demonstrieren. „Über solche Fälle, in denen man die Antwort visuell darstellen kann, sind Richter und Betroffene meist dankbar.“ Ebenso erging es ihm bei einem anderen Auftrag, bei dem er Kratzspuren auf den Gläsern einer Brille nach einem Unfall bei einer Laienschauspielgruppe prüfen sollte. Die Versicherung wollte den Schaden nicht bezahlen. Enzel konnte jedoch auch hier zur Klärung beitragen, wodurch die Schäden entstanden waren. „Gebrauchs- und Unfallspuren sind leicht durch die unterschiedlichen Kratzrichtungen zu unterscheiden.“

Unterstützung und Mehrwert für den Berufsstand

So kommt es naturgemäß auch regelmäßig vor, dass der Sachverständige indirekt ein Fürsprecher für den Berufsstand und eine Hilfe für beklagte Augenoptikerinnen und Augenoptiker ist, etwa, wenn Grenzen der Produktbelastbarkeit aufgezeigt oder Grundsatzurteile gesprochen werden.

Die rund 70 Sachverständigen der Augenoptik sind meist im regen Austausch, einmal im Jahr kommen sie sogar persönlich zusammen. Zudem sehe man sich bei den verpflichtenden Fortbildungen, da jeder Aktive nachweislich innerhalb eines Jahres eine bestimmte Fortbildungspunktzahl erreichen muss. Leider, so Enzel, würden die Kosten für die Fortbildungen immer teurer und seien oft auch mit weiten Reisen verbunden. Doch natürlich wird jedes Gutachten auch entlohnt: Die Vergütung läuft über einen von Amtswegen fixierten Stundensatz, der im Justizvergütungs- und Entschädigungsgesetz JVEG geregelt ist. Er liegt je nach Schwierigkeitsgrad des Gutachtens zwischen 80 und 120 Euro.

Enzel denkt noch nicht daran, seine Tätigkeit als Sachverständiger ruhen zu lassen, im Gegenteil: Er fertigt weiterhin jedes Gutachten mit Freude an und vermittelt darüber hinaus als aktives Mitglied im Entwicklungsdienst deutscher Augenoptiker die korrekten Arbeitsweisen im Augenoptikhandwerk im In- und Ausland. „Es macht immer noch Spaß, denn ich bin wissensdurstig und möchte dranbleiben. Unser Beruf hat eine enorme Bandbreite und bietet, wenn man ihn liebt, viele Möglichkeiten.“ Seine Erfahrungen als Sachverständiger und die Nähe zum Gericht führten ihn darüber hinaus zu einer weiteren verantwortungsvollen Tätigkeit: Konrad Enzel ist ehrenamtlicher Richter am Sozialgericht mit vollem Stimmrecht.

Autorin: Claudia Büdel