Chancen der Nachtlinse

Ortho-K: „Auch Freudentränen hat es schon gegeben“

Die Orthokeratologie ist in Deutschland selbst nach über 25 Jahren noch ein kleines Pflänzchen im großen Beet der Kontaktlinsen. Zu Unrecht, denn inzwischen gibt es viele Belege, dass sie insbesondere bei der Myopiekontrolle von Kindern gute Ergebnisse ermöglicht. Eine kurze Einführung in die Linse der Nacht erhalten Sie in diesem Text, unter anderem von dem Orthokeratologie-Experten Daniel Fischbach, dessen Betrieb seit 2003 Ortho-K-Linsen anpasst.
Mondfinsternis
© AdobeStock/NeoLeo

Ortho-kerato-logie. Wiederholen Sie den Begriff gerne einige Male, denn er wird in diesem Text öfter vorkommen. Nein, es handelt sich nicht um ein neues Produkt aus der Zahnpflege, aber topografisch nicht ganz so weit davon entfernt. Es handelt sich um die Sehkorrektur mit einer sogenannten Nachtlinse. Ortho-K-Linsen gibt es bereits seit über 25 Jahren in Deutschland. Tatsächlich gibt es sie weitaus länger. Entwickelt wurde das Konzept bereits in den 60ern. Die Wirkung, wirklich sehr knapp erklärt: Eine formstabile Kontaktlinse wird vor dem Schlafengehen eingesetzt. Während des Schlafs entsteht durch das spezielle Rückflächendesign der Linse ein kaum messbarer Druck, der mithilfe des Tränenfilms die Hornhaut formt. Die nun veränderte Hornhaut wirkt im Grunde wie korrigiert. Die Veränderung der Hornhaut bewegt sich in einem so niedrigen Bereich, dass sie kaum messbar ist. Wenn man aufhört die Nachtlinsen zu tragen, nimmt die Hornhaut wieder ihre ursprüngliche Form an und die Fehlsichtigkeit kehrt zurück. 

Erste Nachtlinsen schon 1962

Doch woher stammt dieser Zungenbrecher einer Produktbezeichnung eigentlich? Fangen wir einmal ganz vorne an. Orthokeratologie setzt sich zusammen aus dem griechischen Präfix "ortho", das bedeutet "aufrecht", "gerade", dem Präfix "kerato", ebenfalls griechisch von kéras, "Horn", und dem Suffix "-logie", das hauptsächlich bei der Benennung von Wissenschaften angehängt wird. Sie kennen den Begriff Ortho vermutlich aus der Mathematik oder Orthopädie. Unsere Kollegen des wissenschaftlichen Journals Optometry and Contact Lens (OCL) haben der Orthokeratologie in diesem Jahr eine ganze Ausgabe (Juli/August) gewidmet. Die ersten Nachtlinsen, die eine myopiereduzierende Wirkung besaßen, wurden im Jahre 1962 durch den Amerikaner George Jessen aus einem PMMA-Material (Plexiglas) hergestellt. Im gleichen Jahr wurde die Society for Orthokeratology gegründet. Das Design der damals von Jessen entwickelten Ortho-K-Kontaktlinsen korrigierte die Fehlsichtigkeit allerdings nur sehr unzuverlässig. Bis es möglich war, dass diese Linsen zufriedenstellende Ergebnisse lieferten, vergingen weitere 20 Jahre. In den 80er und 90er-Jahren konnte unter anderen der amerikanische Wissenschaftler Dr. Richard Wlodyga (✝2019) Erfolge im Bereich des Rückflächendesigns von Kontaktlinsen erzielen, welche für eine stetige Verbesserung des Effekts der Linse auf das Auge sorgten. 

Nur rund 10.000 Ortho-K-Träger in Deutschland

Die Myopie-Reduktion durch Ortho-K-Linsen ist in Deutschland noch immer Wenigen bekannt. Der Geschäftsführer von Techlens, Wolfgang Laubenbacher, war einer der ersten, der mit den Nachtlinsen arbeitete. Er geht von gerade Mal 10.000 Trägerinnen und Trägern in Deutschland aus. Dabei ist der Effekt, den die Nachtlinse erzielen kann, fast zu schön, um wahr zu sein. Die Hans Meißburger GmbH in Karlsruhe-Durlach arbeitet seit Jahrzehnten mit Techlens zusammen. Aus diesem Grund kam das Unternehmen früh mit dem Konzept der Nachtlinsen in Berührung. „Die erste Ortho-K- Anpassung, die wir gemacht haben, war im Jahr 2003, also kurz nach der deutschen Markteinführung. Seitdem brennen wir für das Thema Orthokeratologie“, sagt Ortho-K-Experte Daniel Fischbach, der selbst seit zwölf Jahren Ortho-K-Linsen trägt. „Die Zusammenarbeit mit Techlens macht sehr viel Spaß, denn Herr Laubenbacher und sein Kollege Herr Walter sind nicht nur sehr kompetent, sondern auch eine große Unterstützung bei Anpassungen.“ Ziel sei natürlich, Kundinnen und Kunden die individuell besten Möglichkeiten zur Korrektion zu bieten. „Und da sind unserer Meinung nach die Nachtlinsen, neben der Brille und der klassischen Kontaktlinse, eine weitere Möglichkeit, dem Kunden ein tolles Seherlebnis zu ermöglichen“, ist Fischbach überzeugt. Außerdem ist sich Fischbach sicher, dass Ortho-K ein wichtiger Baustein ist, um sich als Kontaktlinsenexperte abzuheben

Daniel Fischbach

Daniel Fischbach ist seit 2012 im Familienbetrieb Hans Meißburger GmbH, 2018 absolvierte er den Augenoptikmeister. Er trägt selbst seit 12 Jahren begeistert Nachtlinsen.

© privat

Auch Freudentränen habe es schon gegeben

Mehr noch als über aufwendige Voruntersuchungen, die für die Anpassung der Ortho-K-Linsen notwendig sind, spricht Fischbach vor allem von den guten Erfahrungen, die er bisher gemacht hat. „Die positiven Reaktionen der Kunden, wenn sie nach den ersten Nächten ohne Brille scharf sehen und die Probleme, die jeder Kontaktlinsen- und Brillenträger kennt, wie weggezaubert sind, sind unbeschreiblich“, erzählt Fischbach. Auch Freudentränen habe es schon gegeben. Schwimmen, ohne danach die Brille am Beckenrand suchen zu müssen, nicht mehr mit Kontaktlinsen oder auf der Brille einschlafen, ohne Brille Sport treiben, Sonnenbrillen ohne Stärke tragen und das Nichtvorhandensein vieler Handlingsprobleme mit Kontaktlinsen, wie trockene Augen, seien für die Kunden ein unbeschreiblicher Gewinn an Lebensqualität, weiß Fischbach aus der alltäglichen Praxis zu berichten. „Selbst ich, der Ortho-K-Linsen schon seit zwölf Jahren trägt, freue mich noch sehr oft, morgens aufzustehen und ohne Korrektion scharfe Sicht zu haben. Diesen Gewinn an Lebensqualität und Freiheit spüren wir beim Kundenfeedback und er ist für jeden Anpasser der schönste Lohn und die größte persönliche Motivation“, erklärt Fischbach seine Gründe, als Ortho-K-Anpasser tätig zu sein. 

In Fischbachs Betrieb sind alle Kontaktlinsenspezialisten auch in der Ortho-K-Thematik geschult. In der Meisterschule habe die Ortho-K-Linse keinen wesentlichen Stellenwert, daher zählt Fischbach auf die Zusatzqualifikation seiner Mitarbeiter. Mühsam sei das Anpassen selten: „In den allermeisten Fällen macht die Ortho-K-Anpassung sehr viel Spaß. In ganz seltenen Fällen wird die Anpassung etwas langatmiger, was aber in der Regel schon während der ersten Messung absehbar ist und auch so mit dem Kunden kommuniziert wird. Selbst dann kann man aber nicht von mühsam sprechen, sondern eher von einer Herausforderung“, findet Fischbach und erzählt von einem Kunden, der mit den Werten -3,00 Dioptrien sphärisch und -4,00 Dioptrien Zylinder Ortho-K-Linsen bekam. „Zusätzlich litt er im Sommer stark an Heuschnupfen und konnte in dieser Zeit noch nie Kontaktlinsen tragen. Die Anpassung hat etwas länger gedauert. Jetzt trägt er seit drei Jahren Ortho-K-Linsen - auch im Sommer - der Heuschnupfen und die Nachtlinse vertragen sich gut.“

Die Kundenmotivation ist entscheidend, nicht die Lebensumstände

Bei der Kundenberatung hat die Hans Meißburger GmbH Anpass-Kriterien festgelegt, die sich aus der Refraktion und den Kundenwünschen ergeben. Je nachdem wie diese ausfallen, werde die Ortho-K-Linse als Möglichkeit angeboten. Die meisten Kundinnen und Kunden würden zwar das Konzept nicht kennen. Die Weiterempfehlungsrate sei allerdings enorm hoch. Und: „Einmal Ortho-K, immer Ortho-K“, erklärt Fischbach, der seinen Kunden ein Rund-um-Sorglos-Paket anbietet, das an veränderte Lebensumstände wie Umzug, Presbyopie oder Krankheit, angepasst werden kann. Eine Unverträglichkeit habe Fischbach bisher nicht erlebt. Regelmäßige Nachkontrollen und korrekte Handhabung seien, wie bei anderen Kontaktlinsen auch, wesentlich. In persönlichen Anschreiben erinnert Fischbach die Kunden an ihre Nachkontrollen. „Außerdem dürfen sich diese Kunden das Pflegemittel nach ihrem individuellen Bedarf abholen oder sie bekommen es auf Wunsch gesendet – so sind wir sicher, dass die Pflegemittel genutzt werden, die wir empfehlen“, erklärt Fischbach das Vorgehen. Natürlich komme es auch vor, dass Anpassungen abgebrochen werden, das passiere allerdings sehr selten. In diesen Fällen ist der Kunde im Bilde, dass die Chancen auf einen Erfolg zwar gegeben, aber nicht besonders hoch seien. „Das Hauptausschlusskriterium ist das Refraktionsdefizit, zusätzlich beurteilen wir zuvor, ob eine Myopie über 8,00 Dioptrien vorliegt, ob die Ausgangshornhautradien extrem flach sind und welche Stärke der innere Astigmatismus besitzt. Außerdem pathologisch begründete Indikationen, wie zurückliegende Verletzungen oder Operationen an der Hornhaut (z.B. LASIK)“, erklärt Fischbach. 
 

Gewohnheiten ändern sich mit der Nachtlinse

In einem ausführlichen Beratungsgespräch werde er über das erwartbare Ergebnis aufgeklärt. „Wenn das mit der Vorstellung des Kunden übereinstimmt, steht einer Anpassung nichts im Wege.“ Diese Vorab-Beratung nehme ohnehin einen großen Stellenwert ein, denn Gewohnheiten ändern sich mit der Nachtlinse. Fischbach erklärt: „Nehmen wir zum Beispiel Menschen, die in Nachtschichten arbeiten oder beruflich viel unterwegs sind. Solche Umstände sprechen zwar nicht gegen eine Ortho-K-Anpassung, aber die Konsequenzen für die neue Situation müssen vorher besprochen sein, damit der Kunde weiß, was auf ihn zukommt. So arbeiten wir für jeden Kunden die Vor- und Nachteile heraus – denn für eine erfolgreiche Anpassung ist die persönliche Motivation des Kunden sehr wichtig. Dabei ist die Beratung an sich nicht unbedingt intensiver als bei anderen Kontaktlinsen, es ist nur mehr Aufklärung nötig, da die Nachtlinse meist komplett unbekannt ist.“ Dass es eine solche Technik wie Orthokeratologie gibt, ist auch noch nach 20 Jahren erklärungsbedürftig. Die Linse ist beim Endverbraucher in den meisten Fällen ein völliges Novum und mit Skepsis verbunden. Diese kann der Kontaktlinsenexperte in den meisten Fällen zwar schnell auflösen. Dennoch braucht die Ortho-K-Linse Fingerspitzengefühl vom Anpasser. Das nötige Know-how können sich Augenoptiker und Optometristinnen in Weiterbildungen aneignen. Die Voraussetzungen sollten zumindest sein, dass die Kontaktlinsenanpasserin in der Lage ist, Linsen anzupassen, den vorderen Augenabschnitt zu beurteilen und Fluorbilder einzuordnen, erklärt Daniel Fischbach. „Bei Problemen muss man die Funktionsweise der Kontaktlinse kennen und wissen, welche Möglichkeiten es gibt, um das Sehen zu verbessern.“ Und das Wissen über Handhabung sei elementar. „Ob ein Anpasser erfolgreich ist, hängt auch viel von der Kommunikation im Vorfeld ab“, ist Fischbach sicher. Daniel Fischbach nutzt zudem die Macht der Nachkontrollen, die einen stetigen Kontakt zum Kunden ermöglichen und auch als Erinnerungstool für den jährlichen Austausch dienen. Stichwort Kundenbindung. Gesundheitliche Risiken seien bei korrekter Handhabung keine zu erwarten. „Bei korrekter Handhabung, regelmäßigen Kontrollen und dem Einhalten des Tauschrhythmus, ist die Nachtlinse sogar die gesündeste Art Kontaktlinsen zu tragen“, meint Fischbach.

In 18 Jahren noch kein Panik-Anruf

Lohnt sich das überhaupt, werden manche Leserinnen und Leser jetzt fragen. Daniel Fischbach ist da ganz pragmatisch. Der Start sei zwar aufwendiger als bei einer Brille oder bei Weichlinsen. Aber der Folgeaufwand geringer. Die Erstanpassung werde außerdem durch eine entsprechende Anpassgebühr gedeckt. Schlussendlich lohne es sich doppelt: Denn dadurch, dass der Kunde die Linsen meist über viele Jahre trage, erhält er jedes Jahr ein neues Paar Ortho-K-Linsen von seinem Augenoptiker, was man als relativ gut kalkulierbares Geschäft ansehen kann. Betriebswirtschaftlich ein weiterer Pluspunkt für die Nachtlinse. Viel entscheidender ist allerdings, wie Daniel Fischbach betont: Ortho-K dient als Alleinstellungsmerkmal für Kontaktlinsenspezialisten. Vor panischen Anrufen von Kunden müsse man sich ebenfalls nicht fürchten. Bei Daniel Fischbach erhalten zwar alle Ortho-K-Kunden eine Notfallhandynummer, falls es Probleme außerhalb der Geschäftszeiten gebe. In 18 Jahren habe aber noch kein Kunde angerufen. „Natürlich spielt auch hier wieder die Aufklärung im Vorfeld eine große Rolle, je besser der Kunde vorbereitet ist, desto weniger Chancen, dass ,Panik‘ entsteht.“ Fischbachs ältester Ortho-K-Kunde kommt im Übrigen seit 2003 und sei noch immer begeistert. Und auch bei Kindern habe er bereits schon gute Erfolge beim Myopie-Management erzielt. Ohnehin sei die Ortho-K-Linse als eines der augenoptischen Werkzeuge, neben Brille und Weichlinse, zu begreifen, das man in seinem Repertoire haben sollte. Und auch das konventionelle Brillengeschäft werde durch diese Speziallinse nicht angegriffen. Im Gegenteil: „Betrachte ich die Altersgruppe 18 bis 45 verkaufe ich doch lieber jedes Jahr zwei Ortho-K-Linsen plus Pflegemittel, als alle 4,5 Jahre eine Fernbrille. Schaue ich mir die Altersgruppe 45 bis 70 an, haben wir zur Ortho-K-Linse sogar noch Zusatzverkäufe wie Arbeitsplatzbrillen, Lesebrillen, usw. Außerdem bin ich mit den Kunden regelmäßig in Kontakt und kann das auch für Zusatzverkäufe und Pflege der Kundenbindung nutzen“, erklärt Fischbach, der nach 20 Jahren ebenfalls fortwährend begeistert ist. Ob er also die Orthokeratologie seinen Kollegen empfehlen kann? Das kann er. Mit einer kleinen Einschränkung: Er sollte sich weiter als 40 Kilometer von Optik Meißburgers Einzugsgebiet befinden. Das Alleinstellungsmerkmal soll schließlich gewahrt werden.

In der November-Ausgabe der DOZ finden Sie einen Selbsttest unserer Autorin Nicole Bengeser, die sich nach 30 Jahren Brilletragen an das Thema Ortho-K herangetraut hat.