Der Mann, der allen schöne Augen macht

Ocularisten geben Patienten Selbstvertrauen zurück

Wenn ein Auge durch eine Prothese ersetzt werden muss, ist dies ein Schicksalsschlag. Glasaugenmacher Yannik Müller-Uri gibt Einblicke, wie Ocularistinnen und Ocularisten durch ihr Geschick den vielen Tausend Betroffenen helfen, erläutert den Weg des Rohmaterials bis zum fertigen künstlichen Auge und zeigt auf, welche Berührungspunkte es zur Augenoptik gibt.
Augenglas Rohlinge Ocularist

In den Schubladen des F.AD.Müller Söhne - Institut für künstliche Augen" in Wiesbaden liegen rund 45.000 Augenrohlinge.

© Claudia Büdel

Vom Neugeborenen bis zum Rentner umfasst das Patientenspektrum eines Ocularisten alle Altersschichten. Doch nicht nur die Altersspanne ist groß, auch die Gründe für das Tragen eines Kunstauges sind vielfältig. „Anopthalmus, Retinoblastom, (Auto-)Unfälle und Kriegsverletzungen sind die Hauptgründe. Arbeitsunfälle, Pilzinfektionen durch unzureichende Kontaktlinsenreinigung oder Suizidversuche mit Schusswaffen gehören ebenfalls dazu“, erklärt Yannick Müller-Uri. Seine Vorfahren gründeten die Deutsche Ocularistische Gesellschaft (DOG), er leitet in sechster Generation das „F. Ad. Müller Söhne – Institut für künstliche Augen“ in Wiesbaden. Dort bewahrt er etwa 45.000 Augenrohlinge in Schubladen auf, etwa 11.000 werden europaweit jährlich an den Patienten gebracht. Die Krankenkasse zahlt Ocularisten einen Standardsatz von 483 Euro pro Auge, bei Spezialversorgungen einen Aufschlag. Öffnet man eine der Schubladen im Institut, blickt man auf Rohlinge, die bereits einem Originalauge ähneln. Diese kommen rund zwei bis sechs Wochen nach einer operativen Behandlung des erblindeten Auges zum Einsatz. Zu diesem Zeitpunkt ist die Augenhöhle annähernd ausgeheilt und der Patient erhält sein erstes  Kunstauge. Allerdings nur, wenn das Auge komplett erblindet und der Augapfel beschädigt ist. Bei intakten Augäpfeln normaler Größe und bei Restsehen wird keine Prothese eingesetzt. „In diesem Fall sind Augenoptikerinnen und Augenoptiker als Anpasser von Irisfarbkontaktlinsen gefragt,“ erklärt Müller-Uri.

Herstellung eines Glasauges in Handarbeit beim Ocularisten

Ein Augenglasrohling entsteht: Yannik Müller-Uri ist konzentriert bei der Arbeit (rechtes Bild). Die Herstellung des Rohlings dauert rund eine halbe Stunde. Die Irisfarbe wird, wie alles, in Handarbeit aufgetragen (linkes Bild).

© Claudia Büdel

Austausch nach spätestens einem Jahr

Nach der Erstanfertigung wird aufgrund von Heilungsprozessen, die zu Veränderungen in der Augenhöhle führen, erst zwei bis drei Monate nach der OP das endgültige Kunstauge angefertigt. Dieses kann bis zu zwölf Monate getragen werden. Der Grund für die zeitliche Beschränkung liegt unter anderem in den salzigen Bestandteilen des Tränenfilms, die das Glas nach und nach aufrauen. Zudem kann sich orbitales Fettgewebe abbauen, was zu Sitzveränderungen führt. „Es gibt Patientinnen und Patienten, die ihre Prothese exakt ein Jahr bis zum Tauschtermin im Auge belassen, um sie nicht selbst entfernen zu müssen,“ berichtet Müller-Uri. „Die meisten erlernen die Handhabe aber in der Regel schnell und selbst Kleinkinder kommen problemlos zurecht.“ Auch Augenoptikerinnen sollten keine Scheu haben, das Glasauge bei Bedarf abzusetzen, da es „nichts anderes ist als eine große Kontaktlinse“. Einige Patientinnen seien hilflos, wenn es verdreht, oder bemerken einen schlechten Sitz nicht. „Es darf vom Augenoptiker ausgerichtet werden, da es so glatt ist, dass eine leichte, vorsichtige Rotation nicht als unangenehm empfunden wird.“

Doch zurück zum Weg vom Rohling zur eigentlichen Prothese. Das Rohmaterial, sogenanntes Kryolithglas, wird exklusiv im thüringischen Lauscha hergestellt und etwa seit den 1860er Jahren für die Glasaugenherstellung eingesetzt. Durch die Beimischung von Kryolith wird das originäre Glasmaterial weicher und sein Schmelzpunkt gesenkt, was das Bearbeiten mit dem Bunsenbrenner möglich macht. Es ist widerstandsfähiger gegen die Tränenflüssigkeit und optimal schleimhautverträglich. In Form weißer Glasstangen wird es zu den Ocularisten geliefert. So auch nach Wiesbaden, wo nach alter Familientradition ausschließlich Glasaugen hergestellt werden. Zwar sei es auch möglich Kunststoffaugen aus Polymethylmethacrylat (PMMA) anzufertigen, diese seien aber nur bei einer Schwerbehinderungen des Patienten sinnvoll oder wenn stark zittrige Hände das Bruchrisiko einer Glasprothese erhöhen würden.

Für die Anfertigung des Glasauges wird ein Stück der oben erwähnten Glasstange erhitzt und mit dem Mund zu einer Kugel geblasen. Um die Irisfarbe zu zeichnen, werden mehrfarbige Glasstäbe, genannt „Stängel“, hinzugezogen, die an dicke Buntstiftminen erinnern. Allein die Herstellung des Stängels aus einfarbigen, dünnen Glasröhrchen dauert bis zu 40 Minuten, da mehrere Farbschattierungen eingearbeitet werden. Auch sie werden im Institut angefertigt. Die Spitze eines solchen mehrfarbigen Stängels wird in der Flamme erhitzt und sachte an die Glaskugel geführt, um das Material aufzubringen und zu verschmelzen. Nachdem im Schnitt fünf verschiedene Stängel zum Einsatz kommen, um Grundfarbe, Sterne, Musculus sphincter, den Übergang zum Limbus und die Pupille zu zeichnen, wird noch ein Stück geschmolzenes durchsichtiges Kristallglas aufgetragen. Es sorgt unter anderem für mehr räumliche Tiefe und einen echteren Eindruck. Bindehautäderchen werden, für jede Patientin individuell, erst später ergänzt. Nach einer knappen halben Stunde ist der Rohling fertig, dessen Anpassung an den Patienten im Anschluss nochmals bis zu anderthalb Stunden in Anspruch nimmt. „Hier müssen wir abschätzen, wie viel Platz in der Augenhöhle ist und setzen ein nahezu passendes Modell ein. Durch unser geschultes Auge arbeiten wir schließlich die individuelle Form von Hand aus“, erklärt der Glasaugenmacher. Oberstes Ziel sei dabei, so wenig Schleimhaut wie möglich zu bedecken. Abhängig von der verbliebenden Funktionsfähigkeit der Muskeln, kann sich die fertige Prothese bei Augenbewegungen sogar mitbewegen.

Sieben Jahre Ausbildung

Auch Augenoptikerinnen können mithelfen, eine Augenprothese echt wirken zu lassen. „Damit beide Augen beim Tragen einer Brille gleich groß aussehen, sollte ein Ausgleichsglas genutzt werden.“ Das bedeutet, das prothesenversorgte Auge mit einem Brillenglas in ähnlicher Stärke wie das sehende Auge zu versorgen. Trotz der Bemühung, das Kunstauge so nah wie möglich an das reale anzupassen, stellen gerade Patientinnen der „Generation Selfie“ hohe Anforderungen. „Bei extremen Winkeln oder guter Kameraauflösung sieht man, dass es sich um ein Kunstauge handelt. Und nicht jeder Patient weiß, dass Pupillendurchmesser je nach Beleuchtung unterschiedlich sind. Auf einen Meter Entfernung wiederum sieht es täuschend echt aus.“

Um eine solche Präzisionsarbeit verrichten zu können, ist eine siebenjährigen Ausbildung nötig. Nach Abschluss der ersten drei Ausbildungsjahre darf man als Assistent im Institut erstmals an der Patientin arbeiten. Aktuell werden in Deutschland zwölf Menschen ausgebildet, dazu kommen 80 bis 90 Ocularisten, die in rund 55 Betrieben arbeiten. DOG-Geschäftsführer Achim Theede schätzt, dass diese deutschlandweit jährlich etwa 80.000 bis 100.000 Kunstaugen anpassen. „Viele Patienten reisen extra aus dem Ausland an, weil nur in Deutschland Glasaugen gefertigt werden und sie diese aus Qualitätsgründen den Kunststoffprothesen vorziehen.“ Die Ausbildung zum Ocularisten wird ausschließlich über die DOG organisiert. In der Theorie werden hauptsächlich die chemikalischen Eigenschaften von Glas und deren Färbung sowie die Anatomie des Auges behandelt. So vereint der Beruf des Glasaugenmachers viele Komponenten, die auch den Beruf des Augenoptikers ausmachen: handwerkliche, psychologische, optische und medizinische. Dies bietet Möglichkeiten von Synergien, beispielsweise, wenn Betroffene zu Beginn über Probleme mit fehlendem Binokularsehen klagen. Zudem können Augenoptikerinnen mit ihrer Kompetenz im Dry-Eye-Management punkten.

fertige Glasaugen Prothese vom Ocularisten

Eigentlich „nichts anderes ist als eine große Kontaktlinse“: Auch Augenoptikerinnen und Augenoptiker sollten keine Scheu haben, das Glasauge bei Bedarf abzusetzen.

© Claudia Büdel

Noch Jahre nach einem Unfall kann das gesunde Auge Schaden erleiden

Rund 20 Prozent aller Glasaugenträger haben trockene Augenhöhlen, meist aufgrund von Verletzungen von Lidkante, Tränenkanal oder -drüse. Müller-Uri empfiehlt, die Rückseite des Glasauges vor dem Aufsetzen mit Vaseline zu bestreichen, darüber hinaus können Nachbenetzungslösungen für Linderung sorgen. Eine wichtige Rolle spielt dabei aber auch die Form der Prothese: Liegt sie sehr flach im hinteren Auge, kann sich kein Tränenmeniskus ausbilden und Tränen oder auch Nachbenetzung fließen unkontrolliert ab – und bleiben somit wirkungslos. Müller-Uri: „Noch zehn Jahre, nachdem die Augenhäute beispielsweise bei einem Unfall durchstoßen wurden, können sich durch Antikörper Entzündungsreaktionen im anderen, gesunden Auge bilden und dieses innerhalb kurzer Zeit erblinden lassen. Sobald Schmerzen da sind, sollte das getrübte, erblindete Auge sicher und schnell entfernt werden, um einer Erblindung des Gesunden vorzubeugen.“ Augenoptiker könnten hier einen wichtigen Beitrag zu einer besseren Versorgung leisten, indem sie zu erblindeten Augen aufklären und empfehlen, bei Problemen dringend einen Experten zu konsultieren.

Viele Patientinnen hätten sich jahrelang gequält, ehe sie im Institut vorstellig wurden. Dies liege auch am fehlenden Wissen einiger Ärzte in der Beurteilung der Augenhöhle, auch wenn sie dazu verpflichtet sind, für die Untersuchung der Augenhöhle die Prothese zu entfernen. Das jedoch täten laut Müller-Uri nur geschätzt 30 Prozent der Augenärzte. „Wir müssen einige regelrecht auf Therapieansätze stoßen, wenn wir etwas feststellen.“ Ocularisten indes dürfen wie Optometristen und Optometristinnen „nur“ eine Verdachtsdiagnose stellen. Es führe sogar so weit, dass einige Ärzte Patienten mit einer Ptosis an den Lidchirurgen zur Korrektur überwiesen hätten, ohne sich über Möglichkeiten der Anpassung der Lidwelle der Augenprothese zu informieren. Zudem lasse die Qualität der Lidkorrekturen nach, was Müller-Uri als Systemkritik verstanden wissen will.

Anatomische Begebenheiten als Herausforderung verstehen

„Das Auge ist zu filigran, als dass man hier auf Effizienz trimmen sollte. Jede OP hinterlässt Narben, die eine Anpassung mit speziellen Aussparungen am Kunstauge zur Folge hat.“ Das könne bis zu vier Stunden dauern und koste entsprechend mehr. Der Anpasserfolg eines Glasauges erhöht sich nämlich unter anderem, wenn noch ausreichend fornikales Gewebe und unvernarbte Lider vorhanden sind. Bei Irregularitäten erfordert die Arbeit mitunter Einfallsreichtum. Eine Entwicklung aus den 1990er Jahren von Müller-Uris Großvater, die Lidwelle für Ptosispatienten, ersparte vielen die Operation, für die sie sich schon entschieden hatten: Im oberen Teil der Augenschale wird eine Art Stufe eingearbeitet, die zu einer Fältelung des Oberlids führt und es somit um gut ein bis zwei Millimeter „verkürzen“ kann.

So versucht Müller-Uri, alle anatomischen Gegebenheiten als Herausforderung verstehend, jeder Patientin zu helfen. Denn hinter jedem verlorenen Auge steht ein persönliches Schicksal, das auch die Glasaugenmacher oft sehr berührt. Betroffen berichtet Müller-Uri unter anderem von einer damals 18-Jährigen, die an ihrem Geburtstag von einem nie gefassten Unbekannten auf offener Straße angeschossen wurde. Auch der Motorradfahrer, der nach Fahrerflucht des Unfallverursachers so lange unter der tropfenden Autobatterie liegen gelassen wurde, bis sein Auge fast völlig zerstört wurden, ist ein solcher Fall. „Wir konnten nichts tun, da die Kunstaugenschale in dieser riesigen Augenhöhle keinen Halt fand.“ Ansonsten kann aber fast jedem zu einem neuen Auge verholfen werden, und das europaweit. Aufgrund der nicht flächendeckenden Versorgung in Deutschland und Europa besucht Müller-Uri zusammen mit seinem Team regelmäßig 63 Städte in acht Ländern. In den Niederlanden und Schweden gab es vor Corona ganzjährig feste Sprechzeiten. Hierzulande verlagert sich die mobile Versorgung vom Krankenhaus mehr und mehr in Hoteltagungsräume. Dank der kompakten Ausrüstung, die bequem in einem Koffer Platz findet, ist man am Einsatzort flexibel. Mit im Gepäck sind nebst Werkzeug und Zubehör der eigens gezimmerte Tisch für den Bunsenbrenner und etwa 1.000 Augen Grundmaterial. Dazu kommen weitere Augenrohlingen je nach Einsatzlänge und -gebiet, wie beispielsweise mehr blaue Farbtönen in Skandinavien.

Der beste Lohn für den Einsatz der Ocularisten ist und bleibt die Dankbarkeit der Patienten. „Es ist schön, wenn ich jemandem sein Selbstbewusstsein zurückgeben kann. Ein fehlendes Auge macht unsicher, da eine entstellte Augenhöhle nicht ästhetisch ist. Viele weinen bereits vor Rührung, sobald ich ihnen das erste Modell eingesetzt habe.“ Um diese Tradition fortzuführen, hofft er, die Firma in siebter Generation einmal an seine Töchter übergeben zu können. Doch bis dahin wird er noch vielen schöne Augen machen …

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Autorin

Claudia Büdel - Optometristin (HwK), staatlich geprüfte Augenoptikerin und Augenoptikermeisterin, liebt Kontaktlinsen. Als Kontaktlinsenanpasserin arbeitete sie mit fast allen Kontaktlinsen, auch mit Ortho-K. Im Bereich Education and Development war sie ebenfalls für einen Kontaktlinsenhersteller tätig.