Rathenower Optische Werke: Vom Alleinhersteller zum Sanierungsfall „Jedem eine Brille“ – das hieß nicht: „Jedem seine Brille“

70 Kilometer westlich von Berlin im Havelland liegt Rathenow, die „Stadt der Optik“ wie sie von Stadt­marketing und Einheimischen gleichermaßen stolz genannt wird. 1801 hatte der dortige Pfarrer Johann Heinrich August Duncker vom Preußischen König Friedrich Wilhelm III. die Erlaubnis zum Betreiben einer „Königlich privilegierten Optischen Industrie-­Anstalt“ erhalten. Zuvor war es ihm erstmalig gelungen, eine Vielschleifmaschine zu bauen, die es ermöglichte, Brillengläser und Mikroskope in größeren Stückzahlen zu fertigen. Damit hatte Duncker den Ruf Rathenows als „Wiege der optischen Industrie“ in Deutschland begründet.
Nachdem sich der Betrieb unter Dunckers Erben weiterentwickelt hatte, entstand in Rathenow im 19. Jahrhundert eine eigenständige optische Industrie mit zahlreichen sogenannten „Waschküchenbetrieben“, also in Heimarbeit geführten Fertigungsstätten zur Produktion von Brillengläsern und den dazugehörigen Fassungen. Waren Ende des 19. Jahrhunderts bereits über 1.000 Beschäftigte in 163 Unternehmen der optischen Großindustrie tätig, so entstanden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusätzlich zu den Klein- und Kleinstbetrieben die beiden Großunternehmen Nitsche und Günther sowie die Emil Busch AG (in der Nachfolge Dunckers). Neben Brillen wurden in Rathenow unter anderem Mikroskope, Ferngläser und Fotoobjektive gefertigt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und erheblichen Zerstörungen erfolgte die Enteignung und Verstaatlichung der großen Firmen. Um die Brillenproduktion in der Sowjetischen Besatzungszone wieder in Gang zu setzen, wurden sie 1948 zum Volkseigenen Betrieb (VEB) Rathenower Optische Werke verschmolzen. Weitere staatlich gelenkte Eingriffe überführten die zahlreichen Einzelbetriebe in den 1960er und 1970er Jahren in größere Strukturen. 1980 entstand so der VEB „Hermann Duncker“, der als Teil des Kombinats Carl Zeiss Alleinhersteller von Brillengläsern und Brillenfassungen in der DDR war. 1987 arbeiteten im Betrieb 4.653 Beschäftigte, zum Ende der DDR fertigten die Rathenower Optischen Werke (ROW) jährlich 7,6 Millionen Brillengläser und 4,2 Millionen Fassungen (siehe Titelseite und Artikel aus dem „Neuen Deutschland“).

Allerdings waren die Auswahl und die modische Vielfalt der Brillen für DDR-Bürger äußerst beschränkt. Zum Ausdruck brachte diesen Umstand der zwischenzeitlich vom Kombinatsdirektor in Jena formulierte Spruch: „Jedem eine Brille – aber nicht jedem seine Brille.“ Abgesehen davon waren auch die häufigen Exportaufträge in die sozialistischen Bruderländer problematisch für die Versorgung der DDR-Bürger. Da Lieferungen in die Sowjetunion oder nach Bulgarien Priorität genossen, kam es mitunter zu erheblichen Lieferverzögerungen auf dem ostdeutschen Markt.

Bis 1989 wurden in Rathenow Brillengläser aus Mineralglas (Silikat) und Kunststoff, Brillenfassungen aus Metall und Kunststoff (Acetat) sowie Mikroskope und optotechnische Erzeugnisse wie Ferngläser, Kinoobjektive oder Schleif- und Poliermaschinen gefertigt. Um den wachsenden Bedarf an Brillen abdecken zu können, erfolgten in den 1970er und 1980er Jahren Investitionen zum Aufbau neuer Produktionsanlagen. Noch 1987 begann der Bau einer neuen Fertigungsstätte für Kunststofflinsen, die 1990 fertiggestellt wurde. Zwar war der Maschinen- und Gebäudebestand insgesamt deutlich moderner als im DDR-Durchschnitt, aufgrund der historischen Entwicklung waren die verschiedenen Produktionsstätten allerdings quer über die Stadt verteilt. Zudem hatte der Betrieb zahlreiche soziale Leistungen zu übernehmen. Dazu gehörten unter anderem Ferienheime an der Ostsee, eine eigene Berufsschule, ein Betriebskindergarten sowie eine Betriebssportgemeinschaft mit 2.400 Mitgliedern.
 

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