Ahrtal: Von Normalität noch weit entfernt Jahr eins nach der Flut: Den Wiederaufbau als Chance sehen
21.09.2022
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„Wer noch nie hier war, kann nicht begreifen, dass wir ein Jahr danach noch nicht wieder zurück im Normalbetrieb sind“, berichtet Nora Nechad von ihren Gesprächen mit einigen Herstellern.
„Hier war das Refraktionszimmer, dort der Personalraum…“ Vorsichtig bahnt sich Christian Liell den Weg über den nackten, teils aufgestemmten Betonboden, vorbei an aus der Decke hängenden Kabeln und abgestelltem Baumaterial. Putz und Estrich sind von Wänden und Boden entfernt, in den Deckentafeln klaffen riesige Löcher. Wo einst das Schaufenster eine üppige Auslage präsentierte, versperren Holzplatten den Weg in den Rohbau. Ein Banner mit dem Bild eines lichtdurchfluteten Ladenlokals in Weiß und Orange ist der einzige Hinweis darauf, dass sich hinter Planen und Platten ein Augenoptikerfachgeschäft verbirgt – oder das, was davon übrig geblieben ist. Denn auch die Pro-Optik-Filiale in der Bad Neuenahrer Poststraße wird nicht verschont, als in der Nacht auf den 15. Juli 2021 eine nie dagewesene Flutwelle eine Spur der Verwüstung im Ahrtal hinterlässt, unzählige Existenzen und das Leben von 134 Menschen auslöscht.
1,70 Meter hoch steht das Wasser im Ladenlokal, bricht durch das Schaufenster, wirft schwere Möbel um, reißt die komplette Ware mit sich, hinterlässt Schlamm, Dreck und einen Schaden von einer halben Million Euro – und in der Eisdiele gegenüber gar einen kompletten Lkw. Später sollten Packungen der hauseigenen Kontaktlinsenmarke am Ende der Straße gefunden werden – zwischen Trümmern, Anschwemmungen und dem omnipräsenten Schlamm und Schlick. Niederlassungsleiter Christian Liell wohnt in derselben Straße, ein paar Häuser weiter, steht um fünf Uhr nachts bis zur Brust im Wasser, ist live dabei, als die Flut Häuser, Straßen, Existenzen unter sich begräbt. Wochenlang hat er weder Wasser noch Strom, doch seine Wohnung im dritten Stock ist relativ unversehrt. Ganz im Gegensatz zur Filiale, die der 52-Jährige seit vier Jahren leitet.
„Wir hatten so einen schönen Laden, der war richtig toll.“ Immer noch fassungslos steht Liell im Rohbau vor den Überresten seines bisherigen Berufslebens – mehr als 200 Quadratmeter Tristesse und Frustration. Seit Monaten herrscht Stillstand auf der Baustelle, verursacht durch Streitigkeiten der Hausversicherung mit der des Geschäfts. Wann der Laden wieder geöffnet werden kann, steht noch in den Sternen. „Das ist besonders bitter, da die Mitbewerber schon viel weiter sind“, sagt Liell und verweist auf die schon wieder eröffnete Fielmann-Filiale nur zwei Häuser weiter. Immerhin konnte sein Team Ende August 2021 in einem Container vor dem flutgeschädigten Laden seine Arbeit wieder aufnehmen, in einer darüberliegenden, angemieteten Wohnung im ersten Stock werden Sehtests in einem provisorischen Refraktionsraum angeboten. Doch wie in jedem anderen Bad Neuenahrer Haus ist der Aufzug flutbedingt außer Betrieb, macht es gerade älteren oder gehbehinderten Kunden schwer, die Räume zu erreichen. Als Teil einer Optiker-Kette bekommt das Geschäft in der Kurstadt zumindest zeitnah Ware der anderen Pro-Optik-Filialen. Brillenfassungen und Kontaktlinsen, aber auch ein Refraktionskoffer helfen, nachdem die Flut den Laden leergespült hat.
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