Behinderte Kolleginnen und Kollegen in der Augenoptik

(Gedanken)Schwellen abbauen – Inklusion leben

In Deutschland ist etwa jeder zehnte Mensch behindert. Doch nicht alle sitzen im Rollstuhl oder haben eine schwarz-gelbe Binde um den Arm. So vielfältig wie Menschen sind, so vielfältig ist das Spektrum der Behinderungen. So vielfältig sind aber auch die Möglichkeiten für sie, in der Augenoptik zu arbeiten. An wen man sich wendet, wenn man Behinderte beschäftigen möchte, und wie sie selbst den Berufsalltag meistern, hat DOZ-Autorin Claudia Büdel recherchiert.
Mann im Rollstuhl am Wasser
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Weiterführende Informationen zum Thema und Anlaufstellen finden Sie am Ende des Artikels.

Im ersten Betrieb, in dem ich als frischgebackene HFAK-Absolventin arbeitete, gab es einen Kollegen, der gehörlos war. Er arbeitete in der Werkstatt und war – logischerweise – auch durch die zum Teil große Lautstärke der beiden oft gleichzeitig laufenden Schleifautomaten, durch Azubi-Lehrarbeiten oder Werkstattgespräche nicht aus der Ruhe zu bringen. Somit war seine Behinderung in diesem Fall eher ein Vorteil gegenüber den anderen Mitarbeitenden in der Werkstatt.

Seine Bekanntheit brachte weiterhin einen neuen Kundenstamm zu uns, da einige Hörgeschädigte den Betrieb aufsuchten, um gezielt bei ihm eine Brillenberatung in Anspruch zu nehmen. Die Dankbarkeit, so besonders beraten zu werden, war immer sehr groß. Allerdings hatte ich weder davor noch danach eine behinderte Person in meinem Kolleginnenkreis und fragte mich somit, wie viele Menschen mit Behinderung eigentlich in der Augenoptik beschäftigt sind und ob sich ihr Berufsalltag von meinem unterscheidet.

Doch Moment mal! Habe ich da gerade „behindert“ geschrieben? Ist das nicht diskriminierend?

Tatsächlich brachte mir der Aufruf nach „behinderten Kolleginnen und Kollegen“ einer Augenoptik-Onlinegruppe mehr Kommentare zu sprachlichen Feinheiten und Befindlichkeiten als konkrete Rückmeldungen. So hieß es beispielsweise, dass „Behinderung im Kopf entsteht und dass es genügend treffendere Bezeichnungen gibt, die schon seit geraumer Zeit verwendet und den gesuchten Personen gerechter werden“. Auf Nachfrage wurde mir jedoch keine genannt. Mit der Wortwahl im Aufruf hatte ich mich allerdings vor allem an den Empfehlungen der Behindertenverbände orientiert und Hinweise von Raul Krauthausen beherzigt, der sich selbst als „Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit“ bezeichnet. Verschiedene andere Sprachvarianten wurden dort negativ bewertet: „Handicap“ beschreibe die Situation zeitlich begrenzt und aus defizitorientierter Sicht – oder der eines Golfspielers. Auch „besondere Bedürfnisse“ treffe es nicht, da diese nicht speziell oder extravagant seien, sondern schlicht (im Falle des Rollstuhlfahrers) die ebenso ungehinderte Fortbewegung wie ein Fußgänger. In Studien wurde zudem herausgefunden, dass Menschen jeden Alters als negativer empfunden werden, wenn man sie als Person mit „besonderen Bedürfnissen“ anstelle von „behindert“ beschreibt. Und „speziell“? Diese Aussage sei so allgemein, dass sie wieder nichtssagend sei, da jeder Mensch etwas Spezielles an sich habe.

Krauthausen zieht das Fazit: „Ich kenne keine Menschen mit Behinderung, die sich wünschen, mit den obigen Attributen bedacht zu werden. Es ist seltsam, dass Menschen ohne Behinderung uns erzählen, wie wir Menschen mit Behinderung zu benennen sind. Eigentlich sollten sie auf uns hören, nicht umgekehrt.“

Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt

Und wann gilt man als behindert? Menschen gelten laut Neuntem Sozialgesetzbuch als behindert, „wennihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit  länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung nach Zehnergraden (20 – 100) abgestuft festgestellt.“ Als Schwerbehindert gilt man, wenn von den Versorgungsämtern ein Grad der Behinderung von 50 oder mehr zuerkannt worden ist, worüber ein Ausweis ausgestellt werden kann. Behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung zwischen 30 und 50 können schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden, „wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz nicht erlangen oder nicht behalten können.“
 

9,6 Millionen Menschen haben eine Behinderung

Durch diese Definition erklärt sich, warum auch chronische Erkrankungen wie Diabetes zu den Behinderungen zählen, obwohl man diese den Betroffenen nicht direkt ansieht oder anmerkt und wie es zur vergleichsweise hohen Gesamtanzahl an behinderten Menschen in Deutschland kommt.

In Deutschland leben rund 9,6 Millionen Menschen mit einer Behinderung, von denen etwa 7,1 Millionen eine schwere Behinderung haben. Da es keine Erfassungspflicht gibt, gehen andere Quellen von 10,4 Millionen Menschen aus. Somit ergibt sich eine Anzahl von geschätzt etwa neun bis zwölf Prozent der Bevölkerung. Nur in drei bis fünf Prozent der Fälle ist die Behinderung angeboren und somit in den meisten Fällen erst erworben. Der häufigste Grund hierfür mit 89 Prozent ist eine Erkrankung und die größte Gruppe der behinderten Menschen findet sich unter den über 75-Jährigen.

Inklusion Grafik

Inklusion von Menschen mit Behinderung findet auch am Arbeitsplatz statt.

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57 Prozent der Menschen mit Behinderung sind berufstätig

Aufgrund der ungenauen Angaben zur Gesamtanzahl an behinderten Menschen lässt sich daraus schwer ableiten, wie viele von ihnen im erwerbstätigen Alter sind und auch einer Beschäftigung nachgehen. Das statistische Bundesamt (Destatis) teilte im Mai 2021 mit, dass knapp 57 Prozent der Menschen mit Behinderung zwischen 15 und 64 Jahren berufstätig sind oder nach einer Tätigkeit suchen, wohingegen es bei den Nichtbehinderten knapp 82 Prozent sind. Dem Gesetz nach hat jede Firma ab einer Betriebsgröße von mehr als 20 Mitarbeitern übrigens die Pflicht, mindestens fünf Prozent der Stellen durch Menschen mit Schwerbehinderung zu besetzen. Falls dies nicht möglich ist, müssen die Unternehmen eine Ausgleichsabgabe bezahlen.

Im Dienstleistungssektor sind behinderte Personen überdurchschnittlich gut vertreten, da fast jeder dritte erwerbstätige Mensch mit Behinderung hier arbeitet (zum Vergleich: Anteil bei Menschen ohne Behinderung: 25 Prozent), wohingegen sie in den anderen Bereichen meist unterrepräsentiert sind. Weder der Zentralverband des Deutschen Handwerks noch das Kompetenzfeld Berufliche Teilhabe und Inklusion REHADAT (am Institut der deutschen Wirtschaft Köln) erheben eigene Zahlen darüber, wie viele Menschen mit Behinderung im Handwerk beschäftigt sind. Für die Augenoptik werden solche Zahlen bislang ebenfalls nicht erhoben, allerdings plant der Zentralverband der Augenoptiker und Optometristen (ZVA) laut Lars Wandke, Leiter Öffentlichkeitsarbeit und Marketing, dies in Zukunft zu tun und in die regelmäßigen Befragungen der Betriebe aufzunehmen.
 

Brillenetuis aus Behindertenwerkstätten

Nicht alle Menschen können aufgrund der Art oder Schwere ihrer Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen Beruf ausüben. Für solche Fälle gibt es in Deutschland etwa 700 anerkannte Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM), in der sie persönlich qualifiziert und betreut werden und gegebenenfalls auch auf den regulären Arbeitsmarkt vorbereitet werden können. Derzeit arbeiten rund 300.000 Menschen in WfbM in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis mit dem Schutz, nicht aber den Pflichten eines regulären Arbeitsvertrags – wie etwa der Verpflichtung zum Erbringen einer bestimmten Arbeitsleistung – und sind unkündbar. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e. V. teilt mit, dass in einigen deutschen Werkstätten Brillenetuis hergestellt werden. Weiterhin seien viele Werkstätten in Konfektionierungs- und Verpackungstätigkeiten für den Medizinbereich eingebunden, eventuell auch für die Augenoptik.

Schlummerndes Potenzial?

Doch zurück zum allgemeinen Arbeitsmarkt. Laut Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen sind arbeitslose Menschen mit Behinderung im Schnitt etwas höher qualifiziert als der Rest, dennoch sinke die Arbeitslosenquote langsamer als in der übrigen Bevölkerung. Und das, obwohl in einer Umfrage der „Aktion Mensch“ 80 Prozent der befragten Unternehmer, die Schwerbehinderte beschäftigen, angaben, keinen Leistungsunterschied zur restlichen Belegschaft festzustellen. Zwar kann dieser aufgrund körperlicher oder geistiger Voraussetzungen bestehen, doch zeigen auf der anderen Seite behinderte Kolleginnen und Kollegen eventuell Stärken, die ein nicht behinderter Mensch nicht hat.

Wer sich als Betriebsinhaber entscheidet, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen, kann Förderungen in Anspruch nehmen. Es gibt Hilfen beispielsweise für notwendige Umbauten im Betrieb, Eingliederungszuschüsse, um etwaige längere Einarbeitungszeiten abzufangen, Zuschüsse für Aus- und Weiterbildung sowie die Kostenübernahme für eine bis zu dreimonatige Probebeschäftigung. Die Integrationsberaterinnen der Handwerkskammern oder die Bundesagentur für Arbeit geben hierzu Auskunft und beraten, wie Vorurteile abzubauen und Unwissenheit zu überwinden sind. Im Übrigen gibt es inzwischen auch eine Förderung für behinderte Arbeitnehmer, die den Schritt in die Selbstständigkeit wagen möchten.

Doch genug der Zahlen und Definitionen. Wie es nun eigentlich ist, mit einer von einem Schlaganfall verursachten Behinderung erfolgreich in der Augenoptik zu arbeiten, berichtet  Ines Kampe-Winkler in der Juli-Ausgabe der DOZ. Sie ist seit 1999 Augenoptikermeisterin und seit 2004 Geschäftsinhaberin der Firma „Augencontakt“ in Hamersleben in Sachsen-Anhalt.  

Claudia Büdel


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