Rainer Kirchhübel: „Grundsätzlich wird die Digitalisierung den Menschen nicht ersetzen“

Rainer Kirchhübel
Rainer Kirchhübel leitet die Oculus GmbH seit Februar 1979. Sein Blick bleibt auch nach 40 Jahren nach vorne gerichtet – so sieht er etwa in der Vernetzung diagnostischer Geräte einen Zukunftsmarkt für das Unternehmen.
© Oculus

Seit gut 120 Jahren entwickelt sie Instrumente für die Augendiagnostik und beliefert damit weltweit den augenoptischen Markt: die Oculus Optikgeräte GmbH, heute mit Firmenstammsitz in Wetzlar. „Das Maß aller Dinge sind die hohen Anforderungen unserer Kunden und die kontinuierliche Weiterentwicklung der Technologien“, erklärt das Unternehmen auf seiner Website. Heute leitet Rainer Kirchhübel zusammen mit seinem Sohn Rolf Christian das im Jahr 1895 als „A. Mager Spezialfabrik Ophthalmologischer Instrumente“ von Alois Mager gegründete Unternehmen. In der Digitalisierung sehen Vater und Sohn für die Industrie und für die Augenoptiker das gegenwärtig prägende Thema. So wird es Rainer Kirchhübel zufolge in Zukunft verstärkt um die „weitere Vernetzung von Fertigungsprozessen und von diagnostischen Gerätebefunden“ gehen. Die sogenannte Künstliche Intelligenz indes sollte allein „für diagnostische Hilfestellungen und Absicherung von Diagnosen“ verwendet werden. Persönliche Konsultationen könne sie nicht ersetzen, urteilt Branchenkenner Kirchhübel im Gespräch mit der DOZ. [Noch mehr Interviews mit den Köpfen der Branche zum Thema Digitalisierung finden Sie in der DOZ-Sonderausgabe zur Opti.]

DOZ: Wo setzt Oculus die Digitalisierung bereits um?

Rainer Kirchhübel: In unserem Unternehmen werden bereits in vielen Bereichen Digitalisierungsprozesse eingesetzt. Unterschiedlichste Software unterstützt uns dabei. In der Entwicklungsabteilung werden alle Zeichnungen nur noch digital erstellt. Wir haben mittlerweile die zweite Generation Drucker im Einsatz, um Prototypenteile zu drucken. Auch in der Fertigung haben wir Prozesse, bei denen zwei mehrachsengesteuerte Maschinen von einem Roboter beschickt werden, so dass hier 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche gearbeitet werden kann. In der Fertigung setzen wir eine gezielte Produktionssoftware ein, die eng getaktet vorgibt, welche Teile gefertigt werden müssen, damit die laut Lieferplan erforderlichen Geräte erstellt werden können. Grundsätzlich wird die Digitalisierung den Menschen nicht ersetzen. Er muss sich allerdings mit der Technik weiter fortbilden. Denn die Aufgaben werden komplexer und damit auch interessanter.

Was hat sich im Zuge der Digitalisierung im Kontakt mit Ihren Kunden verändert?

Wir können heute unsere Kunden anders ansprechen: nicht nur per Briefmailing oder per Anzeige in einer gedruckten Zeitung, sondern – unter Einhaltung der Datenschutzverordnung natürlich – auch per E-Mail und über die Social-­Media-Kanäle wie Face­book, Twitter oder LinkedIn. Die Erreichbarkeit sollte damit deutlich besser sein als früher. Bei modernen Diagnoseprodukten kann der Service oft einfacher durch Aufschalten auf die Software vor Ort abprüfen, welcher Fehler vorliegt und wie er am schnellsten behoben werden kann.

Welche digitalen Hilfsmittel kann der Fachhandel besonders für sich einsetzen?

Viele unserer Produkte sind digitalisiert und werden durch Updates, die unsere Kunden auch im Netz herunterladen können, auf dem neuesten Stand gehalten. Als erstes Hilfsmittel bieten wir für eine Spaltlampe unsere ImageCam an. Mit Hilfe einer eingebauten Digitalkamera kann die Diagnostik aufgezeichnet, gespeichert und dem Kunden später gezeigt werden. Ein Verlauf von Diagnostikveränderungen ist damit sehr gut darstellbar. Auch mit unserem Keratograph 5M bieten wir dem Augenoptiker viele Möglichkeiten: angefangen bei der präzisen Vermessung der Hornhautoberfläche zum Beispiel zur Anpassung von Kontaktlinsen. Mit dem Jenvis Pro Dry Eye Softwarepaket zum Keratograph 5M kann das Thema „Trockenes Auge“ diagnostiziert werden. Dem Kunden kann man seinen Status zeigen und mögliche Konsequenzen ableiten.

Welche Rolle spielt dabei die Oculus-Akademie?

Heute ist es nicht mehr damit getan, ein Gerät nur auszuliefern und zu installieren. Die Einweisung muss sehr detailliert stattfinden. In zusätzlichen Kursen können sich die Augenoptiker über geänderte Arbeitsprozesse informieren, um diese anzuwenden. Wir bieten hier eine Vielzahl von Seminaren durch die Oculus-Akademie an.

Telemedizin und Künstliche Intelligenz werden gegenwärtig heiß diskutiert und teilweise umgesetzt. Was plant Oculus in der Hinsicht?

Aus einer Vielzahl von gespeicherten Untersuchungen kann man heute sehr gut Statistiken ableiten, Gauß-Kurven ermitteln und dann entsprechend Hilfestellung für eine sichere Diagnostik zum jeweiligen Befund geben. Verschiedene Module wie das Kerato­konus-Screening mit unserem Keratographen basieren auf intensiven Studien. Mit diesen Modulen kann dann der individuelle Kunde per Softwareabgleich eingeordnet werden. Eine Vernetzung von dia­gnostischen Geräten ist denkbar. In diese Richtung wird sich Oculus auch weiterentwickeln. Diagnosen zu stellen, ohne den Probanden zu sehen und nur aufgrund von Bildern zu urteilen, ist zwar möglich, aber unserer Meinung nach nicht die ideale Lösung.

Wann kommt die Online-Refraktion und wie wird sie die Branche verändern?

Wer heute sein Produkt mit Artificial Intelligence (AI) und KI nicht hinterfragt, ist nicht en vogue. Aber man muss auch nüchtern fragen, wo diese Hilfestellungen definitiv etwas bringen und wo sie marketingmäßig eingesetzt werden. Ein namhafter Brillen-Onlineanbieter hat sich ja darauf zurückgezogen, dass er Augenoptiker als Partner einsetzt, um auf die entsprechenden Brillen- und Zentrierwerte zu kommen, um vernünftige Brillen zu machen. Bis jetzt hat das die Branche nicht massiv verändert. Auch der generelle Online-Refraktionsanteil ist prozentual überschaubar. Einfache Brillenwerte herauszufinden, ist sicher online möglich. Aber der Laie vor dem Rechner müsste viele Parameter präzise einhalten. Ob das so genau funktio­niert, ist die große Frage.

Wie kann das Handwerk digital stattfinden, ohne die Werte Authentizität, Tradition und Regionalität zu zerstören?

Die Frage impliziert die Sorge, dass Online-Refraktion auf breiter Front kommen könnte, der Augen­optiker nicht mehr gefragt wäre, Brillen zu Hause selbst 3D-gedruckt und Gläser bei Amazon bestellt werden würden. Das halte ich für ein nicht handelbares Szenario. Bis auf weiteres sehe ich die Werte Authentizität, Tradition und Regio­nalität vernünftig gegeben. Der Augenoptiker, der sich weiterbildet und mit aktuellen digitalen Messinstrumenten modern arbeitet, wird in seinem Bereich akzeptiert und von vielen Kunden als Spezialist auch gerne aufgesucht.

Die Fragen stellte Judith Kern