Gefäßanalyse an der Retina

Ein Auge
Statische und dynamische Gefäßanalyse am Augenhintergrund gibt Rückschlüsse auf den Zustand anderer Gefäße im Körper.
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Der Blick auf den Fundus ist für viele Menschen beeindruckend, besonders durch die deutlich sichtbare Struktur der Blutgefäße. Diese können selbst Laien einfach erkennen. Doch diese sehr kleinen Blutbahnen bieten neben dem faszinierenden Anblick auch eine Vielzahl an Informationen über die Augengesundheit und den allgemeinen Gesundheitszustand der Person. Größere Veränderungen der Netzhautblutgefäße können durch eine einfache Betrachtung des Augenhintergrundes mit einem direkten oder indirekten Ophthalmoskop erkannt werden. Dadurch können zum Bei­ spiel Rückschlüsse auf Erkrankungen wie Diabetes oder den Bluthochdruck gezogen werden.

Neue Messsysteme sind zusätzlich in der Lage, auch feine Veränderungen objektiv zu analysieren. Damit können Erkrankungen früher erkannt und behandelt werden. Welche Informationen nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft aus der Struktur und der Dynamik der Blutgefäße gewonnen werden können, beschreibt der vor­ liegende erste Artikel aus einer insgesamt dreiteiligen Serie. Besonders spannend sind die neuen Erkenntnisse zum Glaukom, welche zeigen, dass eine augeninnendrucksenkende Therapie nicht immer die gewünschte Wirkung zeigen muss.

In späteren Ausgaben der DOZ folgen die Teile zwei und drei: In Ersterem werden neue computergestützte Verfahren er­läutert und Letzterer fasst die Erkenntnisse nach den einzelnen Krankheitsbildern sortiert zusammen.


Teil 1: Klassische Gefäßanalyse mit der Ophthalmoskopierlinse oder am Fundusbild

Anatomie der Netzhautblutgefäße

Im Körper werden die Makro- und die Mikrozirkulation unterschieden. Die Makrozirkulation umfasst die großen Blutgefäße, die das Blut zu den Organen transportiert. Blutgefäße mit einem Durchmesser unter 300 µm sind Teil der Mikrozirkulation und sind unter anderem für die Regulation des Blutflusses in den Geweben verantwortlich. Alle Blutgefäße am Auge sind kleiner als 300 µm, daher sind vor allem neue Erkenntnisse in der Mikrozirkulation für das Auge wichtig. Hier werden fünf Gefäßarten unterschieden: kleine Arterien, Arteriolen, Kapillaren, Venolen und kleine Venen.

Beim Blick auf den Fundus lassen sich Arterien und Venen gut unterscheiden. Erstere enthalten sauerstoffreiches Blut und sind heller als die Venen, welche Blut aus dem Auge in Richtung Herz abtransportieren (Abb. 1 - alle Abbildungen werden am des Artikels in der Bildergalerie dargestellt). Diese beiden Gefäßsysteme sind über die Kapillaren verbunden, feinste dünne Blutgefäßbahnen, in welchen der Stoffaustausch zwischen dem Blut und dem umgebenden Gewebe stattfindet. Im Inneren der Gefäße befindet sich ein einschichtiges Endothel, an welches sich bei den Arterien und Venen eine Schicht aus Muskeln und Bindegewebe, die Media, anschließt. Im Sehnervenbereich liegen hier circa sieben Zellschichten von Muskelzellen übereinander, in den kleinsten arteriellen Gefäßen hingegen verringert sich die Dicke der Muskelschicht auf zwei Zellschichten. Diese sind wiederum umgeben von der Adventitia, die Abschlussschicht der Arterien und Venen nach außen (Abb. 3). In den Kapillaren befindet sich im Inneren der Gefäße ebenfalls eine Endothelschicht, an welche sich eine Basalmembran anschließt (Abb. 4). Darauf sitzen Perizyten, welche in Verbindung mit den Arteriolen und Venolen für die so genannte Autoregulation in den Blutgefäßen sorgen. Die größeren Venen enthalten wiederum eine Muskelschicht. In gesunden Augen fließen durch die retinalen Blutgefäße 38 bis 80 Mikroliter Blut pro Minute. [1] Die Zentralarterie entspringt hinter dem Auge aus der Arteria Ophthalmica, einem Ast der der inneren Halsschlagader, und verläuft dann innerhalb des Sehnervs zur Papille. Die Zentralvene verlässt ebenfalls über die Papille das Auge und verläuft zehn Millimeter lang innerhalb des Sehnervs, wo sie diesen verlässt (Abb. 5). Der Sehnerv verläuft hinter dem Auge durch den so genannten Subarachnoidalraum, in welchem er dem Hirndruck ausgesetzt ist. [2]

Physiologie der Netzhautblutgefäße

Blutfluss  und Druckverhältnisse

Der Blutfluss im Auge dient der Versorgung der inneren Netzhautschichten mit Nährstoffen und Sauerstoff. Aufgrund des durch das Herz erzeugten Blutdrucks, wird das Blut in den Körperkreislauf gepumpt. Der arterielle Druck im Auge beträgt nur etwa zwei Drittel des am Oberarm gemessenen Blutdrucks. Dem Gefäßinnendruck der Arterien und Venen steht der Augeninnendruck entgegen, welcher vor allem Druck auf die schwächeren Gefäßwände der Venen ausübt, wodurch sich Druckschwankungen des Augeninnendrucks auf den Venendruck übertragen. Wenn der Augeninnendruck also um einen bestimmten Betrag ansteigt, steigt der retinale Venendruck um den gleichen Betrag an. Aus diesen beiden Drücken ergibt sich der Perfusionsdruck, welcher angibt, mit welchem Druck das Gewebe durchblutet wird. [2]
Somit würde in der Regel folgende Annäherungsformel gelten:

Perfusionsdruck = 2/3 mittlerer arterieller Blutdruck – Augeninnendruck

Autoregulation

Die Autoregulation dient dazu, Störungen des Blutflusses auszugleichen und den Blutfluss dem Nährstoffbedarf der Netzhaut anzupassen. Der Blutdruck und der Augeninnendruck sind ständigen Schwankungen unterlegen. Dennoch muss der Blutfluss im Auge konstant gehalten werden, um die Netzhaut optimal zu versorgen. Über feine Muskelschichten in den Blutgefäßen kann über eine Durchmesserveränderung der Gefäße der Blutfluss bei Veränderungen des Perfusionsdrucks stabil gehalten werden. Dabei spielen lokale, systemische und neurologische Faktoren eine Rolle.

Steigt hingegen der Nährstoffbedarf am Auge, kann bei gegebenem Blutdruck und Augeninnendruck über die Autoregulation der Blutfluss in den Gefäßen erhöht werden, um das Gewebe bestmöglich zu versorgen. Solch ein erhöhter Nährstoffbedarf wird zum Beispiel durch Flickerlicht hervorgerufen.

Die Autoregulation kann bei bestimmten Erkrankungen wie dem Glaukom oder der Diabetischen Retinopathie gestört sein. Weiterhin kann eine primäre Dysregulation vorliegen, es handelt sich dabei um eine gestörte Autoregulation ohne zugrundeliegende Erkrankung. Zudem können Druckschwankungen durch die Autoregulation nur in einem gewissen Rahmen ausgeglichen werden. Wenn die Autoregulation erschöpft oder durch Erkrankungen vermindert ist, können Änderungen des Perfusionsdrucks zu Änderungen im Blutfluss führen und somit Gewebeteile schlecht versorgt werden. [3, 4, 1]

Venenpuls

Beim Betrachten der Zentralvene kann häufig ein so genannter Venenpuls beobachtet werden. Der Durchmesser der Vene verändert sich dabei rhythmisch. Bei bis zu 90 Prozent der gesunden Augen ist ein solcher Venenpuls sichtbar. Bei Glaukompatienten hingegen ist je nach Schweregrad der Erkrankung nur bei circa 45 Prozent bis hin zu generell kein Venenpuls erkennbar. Auch bei einem erhöhten Hirndruck kann kein Venenpuls beobachtet werden.

Wie entsteht der Venenpuls?

In den Arterien entsteht der Puls durch den Druckunterschied zwischen der Systole und der Diastole des Herzens. In der großen Oberarmarterien wird typischerweise ein Blutdruck von 120/95 mmHg gemessen. In der Austreibungsphase (Systole) des Herzens, erreicht der Druck sein Maximum, hier 120 mmHg. Während der Füllungsphase des Herzens sinkt der Druck in der Oberarmarterie auf 95 mmHg. Diese unterschiedlichen Druckphasen bestehen jedoch nur im arteriellen Gefäßsystem. In den Kapillaren des Auges wird über die Autoregulation ein konstanter Blutfluss erzeugt. Auch im venösen Gefäßsystem sind die unterschiedlichen Herzphasen nicht mehr nachweisbar (Abb. 5). Das Blut fließt im Körper durch ein Druckpotenzial vom hohen zum niedrigen Druck. Der Druck in den Venen des Auges ist geringer als der in den Kapillaren, daher fließt das Blut über die Venen ab. Damit das Blut aus dem Auge abfließen kann, muss der venöse Druck hinter der Siebplatte, also außerhalb des Auges geringer sein, als der intraokulare Venendruck. Der intraokulare venöse Druck wird durch den Augeninnendruck bestimmt. Hinter dem Auge verläuft die Zentralvene circa zehn Millimeter innerhalb des Sehnervs und verlässt diesen dann in den Subarachnoidalraum. In diesem werden die Druckverhältnisse durch den  Hirndruck bestimmt.

Der Venenpuls lässt sich durch die geringeren pulsbedingten Druckschwankungen des Hirndrucks als die des Augendrucks erklären. Zur Verdeutlichung der Verhältnisse werden folgende Zahlen angenommen: Der Augeninnendruck verändert sich mit dem Puls um 1,5 mmHg. Auch der Hirndruck ist Pulsschwankungen unterlegen, die Veränderung  beträgt  hier  jedoch  nur 0,5 mmHg. Während der Systole, wenn die höchsten Drücke herrschen, ist damit der Unterschied zwischen dem Augeninnendruck und dem Hirndruck um 1,0 mmHg größer, als während der Diastole. Dadurch wird während der Systole mehr Blut aus dem Auge ausgetrieben.

Der Blutfluss in den Kapillaren ist jedoch immer konstant. Wenn nun während der Systole mehr Blut aus dem Auge ausgetrieben wird, führt dies daher zum teilweisen Kollaps der Vene. Anschließend vergrößert sich der Durchmesser der Vene wieder wenn bei der Diastole weniger Blut aus dem Auge ausgetrieben wird. Dies ist der Venenpuls, welcher sehnervennah beobachtet werden kann. Nur ein sehr kurzes Segment der Zentralvene kann pulsieren, abhängig von den Eigenschaften des Venenaufbaus und den umgebenden Gewebestrukturen. Der pulsierende Abschnitt kann auch durch Gewebe oder andere Blutgefäße überdeckt sein, sodass die Pulsation nicht sichtbar ist.

Aufgrund der beschriebenen Funktionsweise des Venenpulses, lässt sich aber auch ableiten, dass bei einem erhöhten Hirndruck kein Venenpuls sichtbar ist. Anders herum kann, wenn der Venenpuls sichtbar ist, ein erhöhter Hirndruck zum Zeitpunkt der Messung ausgeschlossen werden. Bei einer Schwellung des Sehnervs ist daher generell kein Venenpuls sichtbar.

Mess­ und Beobachtungsmethoden

Subjektive Betrachtung des Blutgefäßsystems

Bei der subjektiven Betrachtung der Blutgefäße können diese nach ihrem Durchmesser, den Kreuzungszeichen und der Gesamterscheinung  eingeschätzt  werden.
Der Durchmesser der Gefäße kann lokal, also nur in einzelnen Abschnitten der Blutgefäße, verändert sein, oder es liegt eine komplette Veränderung der Gefäßdurchmesser am Augenhintergrund vor.

Bei der Betrachtung des Augenhintergrundes mit dem Ophthalmoskop oder auf einem Netzhautfoto können lokal verengte Gefäße auffallen sowie ein  verändertes  Verhältnis von Venen- und Arteriendurchmesser. Dieses Verhältnis wird als Arterien zu Venen-Verhältnis (A/V-Verhältnis) angegeben. Es konnte gezeigt werden, dass das Dickenverhältnis bei chronischem Bluthochdruck mit steigendem Druck kleiner wird. Bei der Einschätzung des A/V-Verhältnisses ist unbedingt zu beachten, dass nur Gefäße der gleichen Klasse miteinander verglichen werden sollten. Teilt sich vom Gefäßbaum der Venen beispielsweise bereits ein kleineres Gefäß in der Papille ab, so kann das A/V-Verhältnis nicht mehr zuverlässig eingeschätzt werden (Abb. 6).

Zur Beurteilung von Kreuzungszeichen werden Stellen auf der Netzhaut herangezogen, an denen Arterien den Verlauf der Venen kreuzen. An Stellen, wo die Arterien auf den Venen aufliegen, kann das Bonnet-Zeichen beobachtet werden, bei dem sich Blut in den Venen vor der Kreuzungsstelle staut. Zudem kreuzen die Arterien die Venen mit fortschreitenden Veränderungen durch den Bluthochdruck zunehmend im stumpfen Winkel, was zu einem s-förmigen Verlauf der Arterie im Kreuzungsbereich führt (Salus-Zeichen). Weiterhin kann beobachtet werden, dass die Venen sich im Verlauf beidseits der kreuzenden Arterie sanduhrförmig verengen (Gunn-Zeichen). Die Kreuzungszeichen deuten auf Veränderungen durch einen länger bestehenden Bluthochdruck hin.

Eine weitere Auffälligkeit der Blutgefäße bei Bluthochdruck ist das Giust-Zeichen. Dabei sind die paramakulären Venolen als Folge der Drosselung des Blutflusses im Bereich der Kreuzungszeichen  korkenzieherartig gewunden.

Die zunehmende Verkalkung der Arterien bei Bluthochdruck führt zudem zu veränderten Reflexen der Gefäße. Der zentrale Lichtreflex wird breiter und verändert seine Farbe in einen kupferton und bei starken Veränderungen der Blutgefäße in einen silbrigen Reflex (Kupfer- und Silberdrahtarterien). Zusätzlich zu den Gefäßparametern sollte dann auf ausgetretene Exsudate, suboptimale Versorgung der Ganglienzellschicht (sichtbar als Cotton-Wool-Spots) und Blutungen geachtet werden. [5, 6, 1]

Die Abbildungen 7 bis 13 verdeutlichen diese Auffälligkeiten an den retinalen Blutgefäßen.
Auch dynamische Parameter wie der Venenpuls können subjektiv beurteilt werden. Warum kann es sinnvoll sein, den Venenpuls zu beurteilen? Es konnte gezeigt werden, dass bei vielen Glaukompatienten kein Venenpuls sichtbar ist. Unter Umständen kann ein fehlender Venenpuls sogar darauf hindeuten, dass eine alleinige Augeninnendrucksenkende Therapie keine Wirkung zeigt. Eine genaue Erläuterung dieses Zusammenhangs erfolgt in dritten Teil der Serie.

Zur Beobachtung des Venenpulses sollte ein direktes Ophthalmoskop eingesetzt werden, da hier die Vergrößerung am höchsten ist. Die indirekte Betrachtung mit einer 60 dpt oder 78 dpt Linse ist aber auch möglich.

Wenn kein Venenpuls sichtbar ist, kann der in den Venen vorliegende Venendruck mit der so genannten Ophthalmodynamometrie ermittelt werden. An ein 3-Spiegel-Kontaktglas wird hierbei ein Gerät angeschlossen, welches den Druckanstieg verzeichnet. Mit diesem wird dann auf das Auge gedrückt und somit der Augeninnendruck erhöht. Wenn ein Pulsieren sichtbar wird, wird der anliegende Druck abgelesen. Der erforderliche Druck, um das Pulsieren zu erzeugen, wird venöser Pulsdruck genannt. Diese Messung kann jedoch nur beim Augenarzt und mit Hilfe eines Lokalanästhetikums durchgeführt werden.

Der Druck auf das Auge kann mit der Ophthalmodynamometrie noch weiter erhöht werden, bis dieser größer wird als der arterielle Druck, wodurch ein pulsieren der Zentralarterie erkennbar wird. Wenn der Augeninnendruck höher ist als der Druck während der Diastole, komprimiert sich die Arterie während der Diastole und öffnet sich während der Systole, da nur dann Blut in das Auge strömen kann. Wird der Druck weiter erhöht, sodass dieser größer ist als während der Systole, ist kein Arterienpuls mehr erkennbar, das Gefäß ist dann dauerhaft verschlossen und es strömt kein Blut in das Auge ein. Durch die Messung des Arterienpulses können Rückschlüsse auf den Zustand der Halsschlagadern gezogen werden. Wenn der notwendige Druck, um den Arterienpuls zu erzeugen, beispielsweise rechts und links unterschiedlich ist, ist möglichweise eine Halsschlagader stärker verkalkt als die andere. [7, 2, 8, 4]

Autorin:
Carolin Truckenbrod
MSc in clinical Ophthalmology, Dipl.-Ing. (FH) Augenoptik
Johannisplatz 19, 04103 Leipzig
E-Mail: carolintruckenbrod@t-online.de