Ein radikal innovatives Brillenglas zur Myopiekontrolle

Junge deckt Auge ab
Mit bestimmten Glasdesigns kann die Progression einer Myopie bei Heranwachsenden gedrosselt werden.
© Adobe Stock / New Africa

Das Hoya MyoSmart ist ein neuartiges Brillenglas zur Myopiekontrolle. Es hat zwei verschiedene Brechwerte, die simultan wirken. Das Grundglas korrigiert die Myopie und den Astigmatismus. Zusätzlich befinden sich zahlreiche runde Linsensegmente mit einer Brechkraft von +3,5 dpt auf der Vorderfläche des Glases. Dadurch entsteht eine zweite Bildebene im Augeninneren, die etwa einen Millimeter vor der Netzhaut des Auges schwebt. In einer wissenschaftlichen Untersuchung an 160 chinesischen Schulkindern wurde die Wirksamkeit nachgewiesen. Bei den Kindern, die mit MyoSmart versorgt worden waren, wurde das Augenlängenwachstum im Durchschnitt um 60 Prozent gebremst. Die Kurzsichtigkeit stieg im Mittel um 59 Prozent weniger stark an als in der Kontrollgruppe.

In Asien ist die Kurzsichtigkeit in den vergangenen Jahrzehnten immer häufiger geworden. 1950 waren ungefähr 25 Prozent der Bevölkerung kurzsichtig, heute sind es etwa 80 Prozent (Dolgin, 2016). Die höchsten Prozentwerte findet man in den großen Städten. In der Zehn-Millionenstadt Seoul waren zum Beispiel bei der Musterung von 23.616 Rekruten 96,5 Prozent kurzsichtig. Von diesen hatten 21,6 Prozent eine pathologisch hohe Myopie von mindestens minus 6 dpt (Jung et al., 2012). Die Bauern auf dem Land sind wesentlich weniger betroffen.

Die Entwicklung einer Myopie wird von vielen Faktoren beeinflusst. Zum einen ist eine genetische Disposition von großer Bedeutung. Wenn beide Eltern kurzsichtig sind, wird ein Kind mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 60 Prozent ebenfalls kurzsichtig. Nur etwa zehn Prozent der Kinder werden kurzsichtig, wenn kein Elternteil kurzsichtig ist (zitiert nach Schaeffel, 2012). Zum anderen spielen Seherfahrungen und Umwelteinflüsse eine wichtige Rolle. Die Verstädterung, die Intensivierung der schulischen Ausbildung, die rasante technologische Entwicklung und die Zunahme der Naharbeit sind vier Beispiele für Veränderungen, die zu einer Zunahme der Myopiehäufigkeit in Asien geführt haben.

Das Besondere an der Entwicklung in Asien ist der drastische Anstieg der Myopiehäufigkeit in sehr kurzer Zeit. So hat sich die Häufigkeit der  Myopie bei achtjährigen Kindern in Taiwan von circa 25 Prozent im Jahr 1990 auf über 50 Prozent im Jahr 2000 verdoppelt (Schaeffel, 2012). Diese rasche Zunahme kann nicht genetisch bedingt sein, denn Veränderungen im Erbgut, die von den Eltern anschließend auf die Kinder übertragen werden, entstehen nur über sehr lange Zeiträume. Die „Myopie- Epidemie“ in Asien ist also eher eine Folge der veränderten Lebensumstände in den asiatischen Ballungsräumen.

Europäische Kinder sind nicht so anfällig für die Kurzsichtigkeit wie asiatische Kinder. In einer vergleichenden Untersuchung an 13 bis 15 Jahre alten Kindern, die in China zur Schule gingen, waren die Kinder europäischer Abstammung weniger als halb so oft kurzsichtig wie ihre asiatischen Mitschüler (Lam et al., 2004). Man erwartet aber auch in Europa einen Anstieg der Myopiehäufigkeit. Das renommierte Brian Holden Institut berechnete zum Beispiel für Mitteleuropa einen Anstieg der Myopiehäufigkeit von 20 Prozent im Jahr 2000 auf 54 Prozent im Jahr 2050 (Holden et al., 2016).

Seit einigen Jahren versuchen Forscher auf der ganzen Welt, Methoden zu entwickeln, mit denen man die Entstehung der Kurzsichtigkeit beeinflussen kann. Mittlerweile weiß man, dass Kinder seltener kurzsichtig werden, wenn sie sich länger bei Tageslicht im Freien aufhalten (Jones et al., 2007; Rose et al., 2008). Wenn ein Schulkind bereits kurzsichtig ist, kann man eine weitere Myopieprogression durch Multifokale Kontaktlinsen (Lam et al., 2014), Orthokeratologie (Lipson et al., 2018), spe zielle Bifokalgläser und Gleitsichtgläser sowie durch eine Tropftherapie mit niedrig dosiertem Atropin (Chia et al., 2014) bremsen. Die bisher erprobten Methoden zur Myopiekontrolle mit Brillengläsern wirkten aber nicht immer so gut wie erhofft. Deshalb laufen weltweit zahlreiche Forschungsprojekte, in denen neue Verfahren gesucht werden, mit denen die Entwicklung einer Myopie verhindert oder, wenn das nicht gelingt, zumindest der Endwert der Myopie verringert werden kann.

Hoya MyoSmart

Seit Juli 2018 bietet Hoya in Asien ein neues Brillenglas zur Myopiekontrolle an, das unter dem Namen MyoSmart verkauft wird. Dieses Brillenglas wurde gemeinsam von Hoya Visison Care und den Professoren Carly Lam und Chi-ho To von der Polytechnischen Universität in Hongkong entwickelt.

Dieses Brillenglas wurde von Hoya zunächst als DIMS-Glas bezeichnet. Das bedeutet „Defocus Incorporated Multiple Segments Spectacle Lens“ for Myopia Control. Seit dem Beginn des Verkaufs in Asien hat es aber den eingängigeren Namen  „MyoSmart“ erhalten. Patente für das optische Design des Brillenglases wurden in China, Hongkong und Macau bereits erteilt. In den USA läuft seit 2017 eine Patentanmeldung (US 2017/0131567 A1).

Die Zielgruppe dieser Gläser sind Schulkinder, bei denen sich die Entwicklung der Myopie noch im Anfangsstadium befindet. Mit diesen Gläsern soll das Fortschreiten der Myopie gebremst beziehungsweise ganz gestoppt werden.

Wie ist das MyoSmart konstruiert?

MyoSmart
Abb. 1: Auf der Vorderfläche des MyoSmart befinden sich zahlreiche kleine,
kreisförmige Linsensegmente mit einer Brechkraft von jeweils +3,5 dpt.
Diese kleinen Linsensegmente liegen in einer ringförmigen Zone um
die Glasmitte herum.
Anmerkung: In diesem Bild wurden die kleinen Zusatzlinsen vom Autor
durch eine Kontrastverstärkung mit Photoshop besser sichtbar gemacht.

Das MyoSmart-Brillenglas hat ein sehr ungewöhnliches Design. Es ist kein Gleitsicht- oder Bifokalglas sondern ein Einstärkenglas, auf dem sich dingseitig zahlreiche kleine Zusatzlinsen befinden, die kleinen Kugelsegmenten ähnlich sehen (Abb. 1, 2 und 3).

Das Brillenglas besteht aus einem Grundglas, das die sphärische und astigmatische Fehlsichtigkeit für die Ferne korrigiert. Zusätzlich befinden sich in einem ringförmigen Bereich außerhalb der Glasmitte zahlreiche kleine Linsensegmente auf der Vorderfläche des Glases.

Brillenglas mit LIchtreflex
Abb. 2: Auch bei spiegelnder Beleuchtung kann man
die kleinen Linsensegmente erkennen.

Jedes einzelne dieser Linsensegmente hat eine Brechkraft von +3,5 Dioptrien. Wenn man mit dem Finger über die Vorderfläche des Glases streicht, kann man diese kleinen Linsen fühlen. In einem zentralen Bereich mit einem Durchmesser von 9,4 mm befinden sich keine Zusatzlinsen.

Dort ist eine freie optische Zone, die für ein klares und deutliches foveolares Sehen sorgt. Die kleinen kugelsegmentförmigen Linsen und die zentrale klare Zone kann man auf dem Foto in Abbildung 1 deutlich erkennen.

Fassung mit Brillengläsern
Abb. 3: Wenn die Gläser in eine Fassung eingearbeitet
sind und getragen werden, sind die Linsensegmente
fast unsichtbar.

Warum bremst das MyoSmart  die Myopieprogression? Sinnesphysiologische Grundprinzipien  der Myopiekontrolle

In den letzten vier Jahrzehnten sind zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zur Entstehung der Myopie durchgeführt worden.

Einen Einblick in den augenblicklichen Stand der Forschung findet der interessierte Leser bei Schaeffel (2011, 2012, 2017).

Die wichtigsten Ergebnisse im Zusammenhang mit der Myopiekontrolle sind folgende:

1| Das Längenwachstum des Auges wird von der Netzhaut aktiv gesteuert. Es ist kein Zufall, wenn ein Auge in der Wachstumsphase emmetrop wird und später emmetrop bleibt, sondern ein fein regulierter Prozess, bei dem die Baulänge des Auges exakt an den Brechwert von Hornhaut und Linse angepasst wird. Auch die Myopie ist nicht die Folge eines ungenauen Augenwachstums, sondern von der Natur „gewollt“, als eine (falsche) Reaktion der Netzhaut auf den Sehreiz.

2| Man kann das Augenlängenwachstum durch Brillengläser und Kontaktlinsen beeinflussen. Wenn man zum Beispiel Versuchstieren Brillengläser vor die Augen setzt, wachsen die Augen so, dass die Brillengläser später zu den Augen passen (Diether und Schaeffel, 1997, Smith et al., 2013). Wenn man den Augen simultan mehrere Bildebenen anbietet, kann man die Augenlänge ebenfalls gezielt verändern (Schaeffel, 2017).

3| Die Akkommodation wird fast ausschließlich durch die Fovea geregelt. Das Augenlängenwachstum und damit auch die Emmetropisierung werden aber weitgehend durch die periphere Netzhaut gesteuert. Auf die Fovea kommt es bei der Emmetropisierung nicht an (Smith et al., 2005, Schaeffel, 2012). Dieses Ergebnis hat viele Forscher überrascht, ist aber mittlerweile durch weitere Untersuchungen bestätigt worden.

Grundprinzipien der optischen Myopiekontrolle

Auf den oben genannten drei Erkenntnissen  basieren die heutigen Ideen zur optischen Myopiekontrolle. Man glaubt, dass man die Myopie bei Schulkindern kontrollieren kann, indem man die Bildebene außerhalb der Fovea des Auges – also  in der nahen Peripherie – vor die Netzhaut verlagert. Das ist leichter gesagt als getan, denn die Akkommodation muss natürlich mitberücksichtigt werden.

In der Fovea darf – und soll natürlich auch – eine scharfe optische Abbildung vorliegen. Außerhalb der Fovea sollte aber eine myope Defokussierung vorliegen. Mit diesem Fachausdruck ist gemeint, dass die scharfe Bildebene in der Peripherie – genau wie bei einer unkorrigierten Myopie – vor der Netzhaut liegen sollte. Die Netzhaut erkennt nämlich die  myope Defokussierung und merkt dadurch, dass das Auge bereits zu lang geworden ist und besser nicht mehr weiter wachsen sollte. Infolge der  myopen Defokussierung stoppt die Netzhaut das weitere Augen längenwachstum durch chemische Botenstoffe. So wird die Myopieprogression gebremst.

Im Gegensatz dazu ist es kritisch, wenn die scharfe Bildebene hinter der Netzhaut liegt, denn dadurch kommt eine hyperope Defokussierung zustande. Diese hyperope Defokussierung signalisiert der Netzhaut, dass das Auge noch nicht lang genug ist und noch weiter wachsen sollte. Dadurch wird Augenlängenwachstum angeregt und die Myopie stärker.

Myopiekontrolle mit MyoSmart durch zwei simultane Bildebenen

Der Strahlengang durch das MyoSmart soll im Folgenden anhand von Abbildung 4 erläutert werden. Die Abbildung ist stark vereinfacht, um die wichtigen Details klarer hervorzuheben. Eine optisch präzisere Darstellung findet sich in der Patentanmeldung (US 2017/0131567 A1).

Wenn ein Brillenträger durch die zentrale Zone des MyoSmart blickt, werden entfernte Gegenstände ohne Akkommodation scharf in die Fovea abgebildet, denn das MyoSmart ist in diesem Bereich ein normales Einstärkenglas, das die Fehlsichtigkeit für die Ferne korrigiert. Nahe Gegenstände  sieht der Brillenträger ebenfalls scharf. Er muss dann aber natürlich seine Akkommodation aktivieren.

Gegenstände, die im seitlichen Gesichtsfeld liegen und auf die periphere Netzhaut abgebildet werden, senden Lichtbündel in das Auge, die schräg durch das Brillenglas einfallen (schwarze/grüne Linien in Abb. 4). Diese schrägen Lichtstrahlen laufen sowohl durch das Grundglas als auch durch die kleinen Linsensegmente. Die schrägen Strahlen, die durch das Grundglas laufen, werden in der Ebene der Netzhaut abgebildet. Die schrägen Strahlen, die durch die Zusatzlinsen laufen, werden in eine zweite Bildebene vor der Netzhaut abgebildet. Aufgrund der Brechkraft von +3,5 dpt schwebt die zweite Bildebene etwas mehr als einen Millimeter vor der Netzhaut. Da in der Glasmitte des MyoSmart keine Zusatzlinsen vorhanden sind, ist die zweite Bildebene im Augeninneren in der Schemazeichnung in Abbildung 4 in der Mitte unterbrochen.

 Darstellung des Strahlengangs
Abb. 4: Vereinfachte schematische Darstellung des Strahlengangs
durch ein MyoSmart Brillenglas beim Blick durch die Mitte
des Brillenglases. Das fixierte Objekt wird scharf in die Fovea
abgebildet. Außerhalb der Fovea entstehen zwei Bildebenen:
die eine liegt auf der Netzhaut, die andere schwebt etwa
einen Millimeter davor.

Blickt ein Brillenträger schräg durch das MyoSmart, sieht er simultan durch das Grundglas und durch die kleinen Zusatzlinsen. Diese Art der optischen Abbildung ähnelt den bifokalen Kontaktlinsen vom simultanen Typ, bei denen ebenfalls zwei Bildebenen entstehen. Der Brillenträger sieht dann simultan ein scharfes und ein um +3,5 dpt genebeltes Bild. Die Abbildungsqualität ist in seitlicher Blickrichtung also, ebenso wie bei einer bifokalen Kontaktlinse, etwas schlechter als bei einem Einstärkenglas.

Der für die Myopiekontrolle entscheidende Punkt ist in beiden Fällen, dass durch die zweite Bildebene im Augeninneren eine periphere myope Defokussierung erzeugt wird, die nach den Grund prinzipien der optischen Myopiekontrolle zu einer Verlangsamung der Myopieprogression führt.

Wissenschaftliche Überprüfung

Das Hoya MyoSmart wurde in einer randomisierten Studie wissenschaftlich überprüft (Lam et al., 2018, Lam und To, 2018a und 2018b). An dieser Studie nahmen 160 kurzsichtige chinesische Schulkinder im Alter von acht bis 13 Jahren teil. Ermittelt wurde, um wieviel sich die Augenlänge und die Myopie im Laufe von zwei Jahren veränderte. Gemessen wurde jeweils im Abstand von sechs Monaten (Abb. 5).

Mittlere Verringerung der Myopieprogression

Die Kinder in der Kontrollgruppe, die mit normalen Einstärkengläsern versorgt wurden, hatten nach zwei Jahren im Mittel eine um 0,53 ± 0,24 mm größere Augenlänge. Bei den Kindern, die die MyoSmart-Gläser bekommen hatten, war das Auge hingegen nur um 0,21 ± 0,22 mm gewachsen.

Die Myopie hatte in der Kontrollgruppe im Mittel um -0,93 ± 0,58 Dioptrien zugenommen. In der Myo Smart-Gruppe war die Myopie hingegen nur um -0,38 ± 0,58 Dioptrien stärker geworden (Abb. 5).

Studie zur Wirksamkeit der MyoSmart-Gläser
Abb. 5: Ergebnisse einer klinischen Studie zur Wirksamkeit der MyoSmart-Gläser. Dargestellt ist die Zunahme der Myopie in  Dioptrien innerhalb von zwei Jahren. Dreiecke: Kontrollgruppe mit Einstärkengläsern. Kreise: MyoSmart-Gruppe. Die Fehlerbalken kennzeichnen den Standardfehler der Messwerte. In der MyoSmart-Gruppe stieg die Myopie im Mittel um 59 Prozent weniger an (neu gezeichnet nach Lam und To, 2018a und 2018b).

Im direkten Vergleich hatte die Myopie bei den Schulkindern mit dem MyoSmart also im Mittel um 59 Prozent weniger stark zugenommen als in der Vergleichsgruppe. Das ist ein sehr starker Effekt, der in dieser Größenordnung nach Kenntnis des Autors noch von keinem anderen Brillenglas zur Myopiekontrolle erreicht wurde.

Absoluter Anstieg der Myopie

Im Rahmen der Untersuchung wurde auch ermittelt, bei wie vielen Kindern die Myopie nach zwei Jahren um mehr als eine Dioptrie angestiegen war. Dies waren in der Kontrollgruppe 42 Prozent. In der MyoSmart-Gruppe waren hingegen nur 13 Prozent aller Kinder um mindestens eine Dioptrie stärker kurzsichtiger geworden.

Bei 22 Prozent der MyoSmart-Kinder war die Myopie innerhalb der zwei Jahre sogar überhaupt nicht mehr weiter angestiegen. Innerhalb der Kontrollgruppe war dies hingegen nur bei sieben Prozent der Fall.

Diskussion - MyoSmart: Eine radikale Innovation

Das MyoSmart Brillenglas von Hoya beeindruckt durch sein radikal neues Design. Bislang war es ein ungeschriebenes optisches Gesetz, dass die Oberfläche von Einstärkengläsern glatt sein muss. Die Vorderfläche des MyoSmart weist aber kleine fühlbare Wölbungen auf. Mit diesen kugelsegmentförmigen Zusatzlinsen kann – zum ersten Mal in der Historie der Brillenoptik – eine simultane Abbildung in zwei Bildebenen erreicht werden. Die Bildqualität durch die kleinen Linsensegmente ist in der Nahebene zwar nicht so gut wie die Fernkorrektion durch das Grundglas, aber die Netzhaut des Auges scheint die zweite Bildebene im Augeninneren zu akzeptieren. Die Retina erkennt offenbar die myope Defokussierung und bremst das Augenlängenwachstum.

Worin liegt die klinische Bedeutung  der Myopiekontrolle?

Warum ist eine Myopiekontrolle bei Kindern überhaupt notwendig? Diese Frage kann man sich stellen, denn eine fachgerechte Korrektion der Kurzsichtigkeit von Schulkindern ist für die deutschen Augenoptiker und Optometristen natürlich kein Problem. Man kann die Stärke der Fehlsichtigkeit bei Kindern genau bestimmen. Mit hochbrechenden Brillengläsern können auch hohe Myopien ohne große technische Schwierigkeiten korrigiert werden.

Bis etwa -2 dpt ist eine Kurzsichtigkeit in der Tat weitgehend unproblematisch. Problematisch sind aber alle höheren Myopien, da hier im späteren Leben schwerwiegende medizinische Komplikationen auftreten können. Aus klinischer Sicht besonders besorgniserregend sind hohe Myopien über etwa -6 dpt, denn ab dieser Fehlsichtigkeit steigt die Wahrscheinlichkeit für zahlreiche Sekundärerkrankungen steil an. Zu den durch die Myopie hervorgerufenen Krankheiten zählen zum Beispiel myope Retinopathien, Netzhautrisse, Netzhautablösung, Netzhautblutungen, Staphylome, chorioretinale Atrophien, die Makuladegeneration und das Glaukom (Saw et al., 2005; Ziemssen et al., 2017). Personen mit einer hohen Myopie haben deshalb ein erhöhtes Risiko, noch vor dem Eintritt ins Rentendasein sehbehindert und arbeitsunfähig zu werden. Wenn man durch eine erfolgreiche Myopiekontrolle in Zukunft erreichen könnte, dass sich eine Kurzsichtigkeit beispielsweise bei einem Endwert von -4 dpt anstatt -8 dpt stabilisiert, so wäre das Erkrankungsrisiko etwa um den Faktor 10 kleiner (Vongphanit et al., 2002; Liu et al., 2010).

Bei der Myopiekontrolle geht es also nicht in  erster Linie darum, die Myopie beziehungsweise die Myopieentwicklung vollständig zu stoppen, sondern vielmehr darum, die Entstehung der hohen Myopien und die damit verbundenen gesundheitlichen Gefahren zu verhindern.

Vorteile der Myopiekontrolle mit Brillengläsern

Es ist erwiesen, dass man die Myopieentwicklung mit multifokalen Kontaktlinsen oder Orthokeratologie beeinflussen kann. Brillengläser zur Myopiekontrolle haben aber zweifellos Vorteile in der Anwendung. So kann man Brillen bei Schulkindern leichter anpassen. Die Brille ist – besonders für Grundschulkinder – einfacher zu handhaben als Kontaktlinsen. Das Auge wird nicht berührt. Deshalb sind weniger medizinische Komplikationen zu erwarten. Es gibt auch weniger hygienische Probleme und keine Irritationen der Hornhaut. Schließlich ist die Compliance von Eltern und Kindern sicher größer.

Fazit

Das MyoSmart ist ein außergewöhnliches Brillenglas mit einem radikal neuen optischen Design.  Es basiert auf wissenschaftlich anerkannten sinnesphysiologischen Konzepten zur Myopiekontrolle. Die bislang vorgelegten Ergebnisse der Trageversuche sind vielversprechend. Bei Schulkindern im Alter von acht bis 13 Jahren konnte eine deutliche Reduktion der Myopieprogression erreicht werden,  bei einigen wurde die Myopieentwicklung sogar ganz gestoppt. Das MyoSmart wird bislang nur in Asien angeboten. Deshalb kann man die aus deutscher Sicht spannendste Frage, ob die Gläser auch bei deutschen Schulkindern funktionieren, leider noch nicht beantworten.


Danksagung: Der Autor dankt der Firma Hoya für die Erlaubnis zur Verwendung der per Copyright geschützten Fotos in den Abbildungen 1 bis 3.


PD Dr. Wolfgang Wesemann
PD Dr. Wolfgang Wesemann

PD Dr. Wolfgang Wesemann ist Augenoptiker und habilitierter Medizin-Physiker. Er lehrte und forschte an der Universitäts-Augenklinik in Hamburg und am Smith- Kettlewell Eye Research Institute in San Francisco und war von 1989 bis 2015 Direktor der Höheren Fachschule für Augenoptik in Köln.

Zum Literaturverzeichnis geht es hier: https://www.doz-verlag.de/Downloads