Doreen Willing ist selbstständig als Optometristin: „Es lohnt sich!“

Doreen Willing und Sylvia Friedel
Berufung statt Beruf: Geschäftsführerin Doreen Willing (l.) mit ihrer Angestellten Sylvia Friedel.
© Doreen Willing

„Quo vadis, Geselle?“ Das fragte die DOZ vor einiger Zeit schon einmal zum Thema „Chancen und Möglichkeiten in der Augenoptik“. Wir haben nachgehakt bei jemandem, der sein Glück gefunden hat: Doreen Willing wagte nach 25 Jahren Festanstellung den Schritt in die Selbstständigkeit – als Optometristin mit eigenem Konzept. Eine Unternehmung mit vollem Erfolg, in allen Belangen.

Das Glück, die berufliche Erfüllung – für Doreen Willing fand sie sich im zweiten Stock einer ehemaligen Augenarztpraxis im thüringischen Bad Salzungen. Als „pure Freude“ bezeichnet sie ihre Arbeit, und tatsächlich: Im Gespräch mit der DOZ wird deutlich, wie zufrieden die Optometristin mit ihrer Wahl ist. Dabei waren die Weichen zu Beginn noch ganz anders gestellt: Als Schülerin ist Willing fest davon überzeugt, Pädagogik zu studieren. Doch es soll nicht sein, wie sie erzählt: „Nach dem Abitur 1991 standen meine Pläne Lehrer zu werden auf sehr wackeligen Beinen, da die Umbrüche dieser Zeit doch mehr als aufwühlend waren. Es trieb mich eben nicht hinaus aus Thüringen in die große weite Welt.“ Sie entschließt sich vielmehr, einen Ausbildungsberuf zu erlernen – und kommt dann ganz zufällig zur Augenoptik, als ein mittelständisches Optikunternehmen vor Ort eine entsprechende Ausbildungsstelle anbietet. „Ich hatte vorher weder eine Brille noch sonstige Berührung mit diesem Beruf. Ich bekam den Ausbildungsplatz und so ging es los.“

Ein Schritt folgt auf den nächsten: Sie wird übernommen, arbeitet dann als Gesellin, bis sie sich 2002 entschließt, auf der Meisterschule Hermann Pistor Jena ihren Meister zu machen. „Die Zeit dort war so wunderbar, dass das daraus entstandene Netzwerk bis heute eine große Bereicherung für meine Arbeit und auch für mein Leben ist“, erklärt sie. Mit dem Mei–sterbrief in der Tasche wird sie von ihrem bisherigen Arbeitgeber als Betriebsleiterin/Filialleiterin eingestellt und arbeitet dort zunächst bis 2016 mit großer Leidenschaft weiter.

Ladeneinrichtung Optometristin
Das eigene Geschäft in der ehemaligen Augenarztpraxis. © Doreen Willing

Der Entschluss, sich selbstständig zu machen, er reift nach der Lektüre eines Artikels in der DOZ – es ist der Beitrag „Optometrie im 2. Stock“ in Ausgabe 11|2012, der als „totaler Auslöser“ für ihren Wunsch nach Veränderung fungiert. Willing: „Ich las von einem fränkischen Optometristen, der sich nach 20 Jahren beim Filialisten selbstständig machte, nicht mit einem typischen Optikgeschäft, sondern mit einem für mich völlig anderen Konzept. Das beeindruckte und inspirierte mich sehr.“ Durch die Fachpresse sei damals bereits der neue „Geist der Optometrie“ geweht, Willing spricht auch vom „frischen Wind der Inspiration“. Als sie schließlich noch liest, dass an der Ernst-Abbe-Hochschule (EAH) Jena berufsbegleitend die Weiterbildung zum Optometristen angeboten wird, „gab es für mich kein Halten mehr“, wie sie sagt – sie meldet sich an.

„Auch dieses Netzwerk ist für mich und meine Arbeit bis heute elementar wichtig und inspirierend.“

Mit gerade 40 Jahren bildet sie den Durchschnitt, befindet sich in einer „Schulklasse“ aus angestellt arbeitenden und selbstständigen Meisterinnen und Meistern unterschiedlichsten Alters. „Auch dieses Netzwerk ist für mich und meine Arbeit bis heute elementar wichtig und inspirierend, da sich mein bisher gekannter eindimensionaler Blick um ein Vielfaches erweiterte und ein großes Potenzial an Erfahrung, Wissbegierde und Austausch stattfand und bis heute stattfindet“, erzählt Willing begeistert. Sie sei froh, sich in Jena sowohl an der Pistorschule als auch an der EAH aus- und weitergebildet zu haben, denn: „Hier weht der Geist der Augenoptik überall. Lebenslanges Lernen und von den Besten lernen ist ein großes Privileg und wirklich auch eine Freude für mich.“

Neue Perspektive, neue Geschäftsfelder

Mit der Ausbildung zur Optometristin ergeben sich plötzlich viele zusätzliche Möglichkeiten für Doreen Willing: neue Arbeits- und Sichtweisen, neue Geschäftsfelder. Dem entgegen stehen große Investitionen in Technik, Know-how und ein „unbedingtes Umdenken in der Konzeption der Kundenansprache“, wie sie sagt. Ein Umstand, der sich mit dem traditionell geführten Filialbetrieb so nicht vereinbaren lässt. Also entschließt sie sich, den Laden nach 25 Jahren Festanstellung zu verlassen und gründet mit 43 ihr eigenes Geschäft.

33 Prozent aller Deutschen seien mit ihrer Arbeit „sehr zufrieden“, verkündet das Statistische Bundesamt zum Internationalen Tag der Arbeit am 1. Mai 2018. Eine Statistik, in der sich auch Doreen Willing wiederfindet. Insbesondere ihr eigenes Konzept ist es, das sich vom typischen Ladengeschäft mit Schaufenster abgrenzt – angefangen beim Standort. „Optik & Optometrie Doreen Willing“ befindet sich in einer ehemaligen Augenarztpraxis im Obergeschoss eines Ärztehauses. 135 Quadratmeter, Parkplatz hinter und Bushaltestelle vor dem Haus, Fahrstuhl, barrierefreier Zugang, im Haus sind neben einer Apotheke noch zwei Zahnärztinnen, ein Diabetologe, eine Allgemeinärztin, ein Chirurg, ein Urologe und eine Praxis für Physiotherapie beheimatet. „Tadellos“ funktioniere das interdisziplinäre Miteinander.

Die Wahl des Ärztehauses – kein Zufall: Schon während ihrer Tätigkeit als Augenoptikermeisterin pflegt Doreen Willing die Kommunikation mit Augenärzten, legt Wert auf ein respektvolles Miteinander, erarbeitet sich so einen guten Kontakt und die Wertschätzung der Mediziner. Ein Umstand, der schlussendlich auch zu dem Angebot führt, die Räumlichkeiten der ehemaligen Arztpraxis zu übernehmen. „Zum Zeitpunkt der Gründungsüberlegung gab es in der Kreisstadt gerade keinen Augenarzt mehr, und ich sah eine Chance, mit der Optometrie zum Bindeglied zwischen der klassischen Optik und der Ophthalmologie zu werden. Praktisch meine Nische. So fügte sich eines zum anderen“, verrät Willing. Gleichzeitig hält sie Kontakt zu weiteren Physiotherapeuten, Os–theopaten, Ergotherapeuten, Logopäden und Fachrichtungen, die an einer ganzheitlichen und interdisziplinären Zusammenarbeit interessiert sind.

Ruhige Atmosphäre für persönliche Gespräche

Im ersten Jahr ist sie noch alleine tätig, dann stellt sie ihre Meisterschulkollegin Sylvia Friedel ein. „Optometrie gepaart mit traditioneller Augenoptik“, lautet der Kern des Konzepts, und hinzu kommt ein ganz spezieller Ansatz: eine Mischung aus „Brillengeschäft“ und optometrischer Praxis im gemütlichen Wohnzimmerambiente. In erster Linie gehe es darum, findet die Optometristin, „einen Raum zu schaffen, in dem in ruhiger Atmosphäre bei einer guten Tasse Kaffee ein persönliches Gespräch mit dem Kunden stattfindet und individuelle, wertige Lösungen gefunden werden.“ Gearbeitet wird deshalb ausschließlich mit Termin, so lässt sich gut planen, für die Kundschaft sei das „völlig selbstverständlich“. Die Kernöffnungszeiten sind dem Ärztehaus angepasst, und alles Weitere geschieht nach Vereinbarung, „sodass es der Kundschaft und auch mir und meiner Mitarbeiterin gut passt.“

Kind hinter Spaltlampe
Schau mir in die Augen, Kleines: Auch
Kinderoptometrie gehört mit zum Angebot.
© Doreen Willing

Viel Wert legt Willing auf die Bedarfsanalyse zu Beginn. Die erste Kontaktaufnahme sei von derart großem Wert und so elementar wichtig, dass dieser „erste hochsensible Teil sehr viel Zeit in Anspruch nimmt“ – Zeit, die sie sich natürlich für jeden Kunden nimmt. „Aufmerksamkeit und Zuwendung, die uns die Kundschaft in einem großen Maße mit Vertrauen dankt. Das öffnet Türen, die ohne dies verschlossen blieben“, konstatiert sie. Im Gespräch ergäben sich dann viele spannende Möglichkeiten, den Kunden individuell zu Fragen und Wünschen zu beraten und ihm sinnvolle optometrische Dienstleistungen anzubieten beziehungsweise wertige Produkte zu verkaufen.

Stichwort Dienstleistungen: Neben der ausführlichen Brillenglasbestimmung bietet Willing die Tono­­metrie mit Pachymetrie, die Betrachtung des vorderen Augenabschnitts, die Tränenfilmanalyse mit dem Keratographen sowie dem Jenvis Dry Eye Report und die Fundusbetrachtung per EasyScan an. Des Weiteren finden sich im Portfolio Kinderoptometrie, Visualtraining, Plusoptix-Screening, Myopiekontrolle, Kontaktlinsenanpassung, Orthokeratologie und Low Vision-Versorgung. „Also gibt es in meinem Geschäft alles, was zur Rundumversorgung gehört“, sagt die Inhaberin. Entsprechende Dienstleistungen werden in Paketen angeboten und als Dienstleistung getrennt von der Ware berechnet. Kunden haben somit die Möglichkeit, nur die Untersuchung in Anspruch zu nehmen und sich unabhängig davon für oder gegen einen Brillenkauf zu entscheiden.

Der positive Nebeneffekt: „Die Arbeit ist bezahlt, auch wenn es nicht zum Brillenverkauf kommt. Die Kundschaft findet interessanterweise diese Trennung sehr richtig und es völlig normal, für die geleistete Arbeit ein Entgelt zu zahlen. Darüber gibt es keine Diskussionen, und ich habe oft das Gefühl, dass es den Kunden ein Bedürfnis ist, die wertvolle Arbeit auch monetär anzuerkennen.“ Das war für Willing keine Selbstverständlichkeit – im Gegenteil: Eigentlich habe sie etwas anders erwartet, da es ihre Kundschaft aus dem vorherigen Geschäft gewohnt war, für entsprechende Dienstleistungen nicht bezahlen zu müssen. „Ein Wagnis, aber ein äußerst zufriedenstellender Verlauf“, findet Willing. Auf eine voll ausgestattete Werkstatt, in der die Brillengläser eingeschliffen werden, hat die 46-Jährige bewusst verzichtet, diesen Teil übernimmt ein Glaslieferant. Für Sonder- und Notfälle greift sie auf ein kleines Netzwerk „hervorragender Augenoptikerinnen mit handwerklicher Leidenschaft und bester technischer Ausstattung“ zurück.

Ein Konzept, das einfach funktioniert

Was sie begeistert an ihrem Konzept? „Dass es funktioniert! Keine Preisschlachten, kein Beratungsklau, keine Dauerbilligaktionen, keine Preisdiskussionen. Anerkennung und Wertschätzung.“ Mit Ausnahme einer Eröffnungsanzeige 2016 und der Vorstellung ihrer Mitarbeiterin 2017 habe sie auch keine Werbung geschaltet, viele Kunden kämen durch persönliche Weiterempfehlung. Lediglich in den sozialen Netzwerken sei sie unterwegs, was von ihrer Kundschaft stark wahrgenommen werde.

Doreen Willing spürt auch nach Jahrzehnten keinerlei Abnutzung: „Wir haben den tollsten Beruf überhaupt!“

Willing wirkt wie ein Paradebeispiel für „gelebte Optometrie“ – und spürt auch nach Jahrzehnten in der Branche keinerlei Abnutzungserscheinungen, ist voller Elan und Energie: „Wir haben den tollsten Beruf überhaupt! Wir arbeiten mit Menschen, wir kommunizieren, bieten Lösungen, interagieren, lernen und machen Erfahrungen.“ Die Arbeit sei körperlich nicht anstrengend, fordere sie in ihrer Kreativität und „lässt mich mit Kindern, jungen Menschen, alten Menschen, behinderten Menschen, gesunden, extrovertierten, in­trovertierten, bunten und weniger bunten Menschen arbeiten.“ Ihr Fazit: „Es ist faszinierend, wie sich die Augenoptik/Optometrie entwickelt, und ich möchte daran teilhaben, bin neugierig, wissbegierig und treffe Mitstreiter, bin im Austausch, bin vernetzt. Auch fürs Leben. Ich interessiere mich für mein Gegenüber, respektiere und wertschätze es. Und ich bekomme das alles zurück.“

Lebenslanges Lernen als Lust, nicht als Last

Doreen Willing hat also ihre Nische, ihre berufliche Erfüllung in der Augenoptik gefunden. Welchen Rat gibt sie Berufsanfängern oder dem Nachwuchs, der zum Beispiel gerade sein Studium abgeschlossen hat und noch nicht so recht weiß, was der nächste Schritt sein soll? Für sie ganz klar: „Alles Wissen ist sehr viel wert, aber das Können kommt mit der praktischen Arbeit. Erfahrungen müssen gemacht werden, positive und auch negative. Nur das bringt uns voran.“ Sie rät Absolventen daher, sich auszuprobieren und in der Praxis herauszufinden, wofür sie brennen und was ihr Talent ist. Das wisse man nach der Ausbildung noch nicht. „Da war ich froh, dass ich mit der Prüfung fertig war und wollte erst einmal Geld verdienen.“

Zu neuen spannenden Tätigkeitsfeldern treibt sie schließlich ihr Verlangen nach Wissen und das Quäntchen „mehr können wollen als andere“. Lebenslanges Lernen? „Klingt wie eine Last, ist für mich aber mehr Lust.“ Jede Weiterbildung bringe schließlich Inspiration, neue Ideen „oder auch mal die Erkenntnis, dass man das schon ganz gut macht oder wie man es eventuell nicht machen sollte“. Viel Potenzial sieht Willing auch in der Digitalisierung. So könne jeder sein Arbeitsfeld finden, ob im Geschäft oder in Forschung und Entwicklung. Grundsätzlich wichtig: „Netzwerken Sie! Halten Sie gute Kontakte zu Ihrem augenoptischen Umfeld. Auch die Kollegen spezialisieren sich, und manchmal ist es wichtig, jemanden zum Erfahrungsaustausch zu haben.“ Auch für Kollegen, die mit dem Angebot optometrischer Dienstleistungen noch zögern, hat sie einen Tipp: Beschäftigt euch mit der Sache und dem Inhalt! Erst in Optometrie weiterbilden, dann mit ausreichendem Hintergrundwissen an die entsprechende Dienstleistung wagen. Denn, so Willing: „Kompetenz muss man erwerben.“ Schließlich nutzt eine Funduskamera wenig, wenn man keine Ahnung hat, was man sich damit ansieht und das Ergebnis nicht verlässlich auswerten kann.

Mit Mut und Individualität zum Glück

Die Augenoptik als Dreh- und Angelpunkt für ein erfülltes Berufsleben. Für all diejenigen mit der Energie und dem Mut, ein eigenes Geschäft zu gründen, hat Willing einen abschließenden Rat parat: „Es lohnt sich! Aber finden Sie Ihre eigene Sparte und Ihr eigenes Konzept, das in Ihr Umfeld und zu Ihnen passt.“ Und auch, wenn die Selbstständigkeit „mindestens doppelt so anstrengend“ sei wie das Angestelltendasein: „Es ist toll, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, seine eigenen Fehler zu verantworten und am Ende eines Arbeitstages, Monats oder Jahres in Zahlen zu sehen, dass es sich gelohnt hat!“

Autor: Christian Schutsch