Im Alltag oft unbemerkt Hörstörungen bei Kindern erkennen, einordnen und diagnostizieren
28.11.2025
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Gutes Hören ist die Grundlage für die kindliche Sprachentwicklung und soziale Teilhabe – das beginnt schon beim Zuhören in der Vorleserunde der Kita.
Erstveröffentlichung in der DOZ 12/2025.
Hörstörungen lassen sich im Kindesalter grundsätzlich in drei Gruppen einteilen. Besonders häufig sind Schallleitungs-Störungen wie der Paukenerguss, der bei Kleinkindern wiederholt auftreten kann. Diese meist beidseitige, vorübergehende Hörminderung beeinträchtigt das Hören in einem Bereich von etwa 20 bis 40 Dezibel und bleibt im Alltag oft lange unbemerkt. Studien zeigen, dass gerade chronische Paukenergüsse das Risiko für eine verzögerte Sprachentwicklung erhöhen (Gravel & Wallace, 2000).
Kritisch wird es, wenn die Beeinträchtigung über einen längeren Zeitraum bestehen bleibt und so den Spracherwerb hemmt. Schallempfindungsstörungen betreffen das Innenohr oder den Hörnerv und können angeboren oder erworben sein. Viele dieser Störungen werden bereits durch das Universelle Neugeborenen- Hörscreening (UNHS) erkannt, das sich als wirksames Instrument der Früherkennung etabliert hat (Northern & Downs, 2002). Hier ist eine frühe Versorgung mit Hörgeräten oder Cochlea-Implantaten von großer Bedeutung, um den Spracherwerb bestmöglich zu unterstützen.
Besonders herausfordernd sind auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen, kurz AVWS. Kinder mit AVWS hören zwar oft normal laut, haben jedoch Schwierigkeiten, Sprache zu verstehen – vor allem in lauter Umgebung oder bei komplexen sprachlichen Anforderungen. Sie profitieren selten von klassischen Hörgeräten, dafür umso mehr von therapeutischem Hörtraining oder von der Nutzung spezieller akustischer Hilfsmittel wie FM-Systemen. Die Konsensuskonferenz zur Diagnostik von AVWS hebt hervor, dass eine differenzierte Diagnostik notwendig ist, um AVWS von anderen Störungen wie ADHS oder Sprachentwicklungsverzögerungen abzugrenzen (Jerger & Musiek, 2000).
Kindlicher Entwicklungsstand bestimmt die Diagnostik
Die Diagnostik kindlicher Hörstörungen orientiert sich am Entwicklungsstand des Kindes. Objektive Messverfahren wie otoakustische Emissionen und Hirnstammaudiometrie kommen bereits bei Neugeborenen zum Einsatz und geben erste Hinweise auf die Funktion von Innenohr und Hörnerv (Werner, 2019). Ab dem sechsten Lebensmonat ermöglichen spielerische Tests wie die Verhaltensbeobachtungs- oder die Spielaudiometrie eine erste Einschätzung der Hörfähigkeit. Im weiteren Verlauf werden Sprachtests unter Freifeldbedingungen eingesetzt, um das Sprachverstehen unter möglichst realistischen Bedingungen zu überprüfen. Bei Verdacht auf zentrale Hörverarbeitungsstörungen erfolgt eine spezialisierte Diagnostik in der Phoniatrie oder Pädaudiologie. Hierbei werden unter anderem die Fähigkeit zum dichotischen Hören, die Lautdiskrimination sowie das Sprachverstehen in Störgeräuschen getestet. Die Ergebnisse dieser Diagnostik liefern wichtige Hinweise, ob und welche technische oder therapeutische Unterstützung sinnvoll ist.
Schauen wir uns zwei Fallbeispiele an: Luca, vier Jahre alt, fiel im Kindergarten kaum auf. Er wurde als ruhig, aber aufmerksam beschrieben. Seine Sprache wirkte einfach, aber verständlich. Erst bei der Einschulungsuntersuchung stellte sich heraus, dass seine Sprachentwicklung verzögert war. Der Kinderarzt veranlasste eine pädaudiologische Abklärung, bei der ein beidseitiger Paukenerguss mit mittelgradiger Schallleitungs-Schwerhörigkeit diagnostiziert wurde. Dank einer rechtzeitigen Behandlung durch eine Trommelfell-Drainage und begleitender logopädischer Frühförderung konnte Luca im letzten Kindergartenjahr sprachlich deutlich aufholen.
Marie, sieben Jahre alt, stellte ihre Eltern und Lehrkräfte vor ein Rätsel. Sie hörte nach eigener Aussage gut, verstand aber in lauter Umgebung oft nicht, was gesagt wurde. Die Diagnostik in der Pädaudiologie zeigte eine unauffällige Tonaudiometrie, jedoch auffällige Ergebnisse im dichotischen Hören, was auf eine AVWS hinwies. Mit Hilfe eines FM-Systems, das ihr gezielt das Lehrersignal übertrug, und einer begleitenden logopädischen Therapie verbesserte sich Maries Sprachverstehen im Klassenzimmer spürbar.
UNHS, das Universelle Neugeborenen-Hörscreening, hat sich als wirksames Instrument der Früherkennung etabliert.
Die Rolle des Hörakustikers
Hörakustikerinnen und Hörakustiker nehmen eine zentrale Rolle im Versorgungsnetzwerk ein. Sie sind nicht nur für die technische Anpassung von Hörgeräten verantwortlich, sondern auch wichtige Ansprechpartner für Eltern und pädagogische Fachkräfte. Durch ihre Beobachtungen während der Anpassung und Beratung erkennen sie häufig erste Hinweise auf eine nicht ausreichende Hör- oder Sprachentwicklung. Ihre Aufgabe ist es, diese Beobachtungen zu benennen, Eltern zu sensibilisieren und gegebenenfalls die Weichen für eine weiterführende Diagnostik zu stellen.
Bereits ein beidseitiger Hörverlust von nur 25 Dezibel kann bei Kindern die Sprachentwicklung erheblich beeinträchtigen (Dillon, 2012). Paukenergüsse sind die häufigste Ursache für vorübergehende Hörverluste im Vorschulalter, bleiben jedoch oft lange unbemerkt. Kinder mit AVWS hören, wie eingangs bereits erwähnt, „normal laut“, verstehen aber häufig schlecht – vor allem in Gruppen oder lauten Umgebungen. Der kindliche Hörverlust ist einer der wenigen medizinischen Faktoren, bei denen ein frühzeitiges Eingreifen nachweislich die langfristige Sprach- und Schulentwicklung positiv beeinflussen kann (Yoshinaga-Itano et al., 1998).
Dichotisches Hören – was ist das?
Beim dichotischen Hören werden dem rechten und linken Ohr gleichzeitig unterschiedliche Wörter oder Silben präsentiert. Kinder mit einer gesunden zentralen Hörverarbeitung können beide Reize richtig aufnehmen und zuordnen. Bei Störungen der auditiven Verarbeitung gelingt das oft nicht, was im Alltag zu Missverständnissen führen kann – zum Beispiel beim Hören in Gruppen oder bei mehreren gleichzeitigen Geräuschquellen.
Ein Beispiel: Beim sogenannten Uttenweiler Dichotischen Sprachtest hören die Testpersonen auf dem rechten Ohr beispielsweise das Wort „Maus“, während sie auf dem linken Ohr gleichzeitig das Wort „Haus“ hören. Die Aufgabe besteht darin, beide Wörter richtig zu wieder holen. Gelingt das nicht oder wird nur ein Wort wahrgenommen, kann dies auf eine zentrale Verarbeitungsstörung hinweisen. Der Test ist ein wichtiges Verfahren, um auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) zu diagnostizieren.
Fazit: Bestmögliche Förderung sicherstellen
Hörstörungen bei Kindern sind häufig komplexer, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Für Pädakustiker kommt es darauf an, die verschiedenen Störungsbilder zu erkennen, diagnostische Ergebnisse richtig einzuordnen und Familien gezielt zu begleiten. Dabei ist es wichtig, interdisziplinär zu denken und eng mit Ärzten, Therapeuten und Pädagogen zusammenzuarbeiten. Nur so kann sichergestellt werden, dass Kinder nicht nur technisch, sondern auch sprachlich und sozial bestmöglich gefördert werden. Nicht jede Hörstörung braucht sofort ein Hörgerät – aber jede Hörstörung braucht Aufmerksamkeit und eine individuelle Betrachtung im Entwicklungszusammenhang.
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Literatur und Quellen
Literaturverzeichnis einblenden[1] Dillon, H. (2012). Hearing aids. Thieme Medical Publishers.
[2] Gravel, J. S., & Wallace, I. F. (2000). Effects of otitis media with effusion on hearing in the first 3 years of life. Journal of Speech, Language, and Hearing Research, 43(3), 631-644.
[3] Jerger, J., & Musiek, F. (2000). Report of the consensus conference on the diagnosis of auditory processing disorders in school-aged children. Journal of the American Academy of Audiology, 11(9), 467-474.
[4] Northern, J. L., & Downs, M. P. (2002). Hearing in children. Lippincott Williams & Wilkins.
[5] Yoshinaga-Itano, C., Sedey, A. L., Coulter, D. K., & Mehl, A. L. (1998). Language of early- and later-identified children with hearing loss. Pediatrics, 102(5), 1161-1171.