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DOZ
03 | 2014
Ende des 19. Jahrhunderts als die Novelle
„Kleider machen Leute“ des Schweizer
Dichters Gottfried Keller erschien, galt
die Kleidung einer Person als Statussym-
bol. Sie konnte ihrem Träger zu gesell-
schaftlichem Ansehen und damit zu einer
besseren Behandlung verhelfen.
Auch heute wirkt dieselbe gesellschaft-
liche Kraft, es geht um den persönlichen
Status. Seit einiger Zeit sind Korrektions-
und Sonnenbrillen ein beliebtes Vehikel,
diesen auszudrücken. Die Brille gilt in-
zwischen als schick. Doch das war nicht
immer so. Lange Zeit war eine Brille für
ihren Träger eine Last. Spitznamen wie
Brillenschlange, Kobra, Vierauge, Lupen-
prinz oder einfach nur Streber wurden
auch durch die Wiederherstellung der
Sehkraft nicht wettgemacht. Ihren Auf-
stieg aus dem Tal der zweckgebundenen
Lesehilfe zum modischen Hingucker be-
gann die Brille strenggenommen bereits
in der Antike mit einer Art Vorform der
Sonnenbrille von heute.
Berichten zufolge soll der römische
Kaiser Nero in der Arena die Kämpfe der
Gladiatoren durch einen Smaragd oder
eine Art Glas aus grünen, durchsichtigen
Mineralien verfolgt haben. In der Regel
waren die Spielstätten nicht oder nur
spärlich überdacht. Daher liegt es nahe,
dass sich Nero so vor dem Sonnenlicht
schützte. Dann, gegen Ende des 13. Jahr-
hunderts, wurden in Italien die soge-
nannten Lesesteine entwickelt. Diese
dienten sehschwachen Mönchen zum
besseren Erkennen von Geschriebenem.
Dieser Urahne unserer Brille bestand aus
Quarz (Bergkristall) oder Beryll und wirkt
bis heute namensgebend. Im 18. Jahrhun-
dert folgte unter anderem das Lorgnon,
im 19. Jahrhundert hatten der Zwicker
und das Monokel ihre Hochphasen. Ende
des 19. Jahrhunderts stellte Bismarck die
Weichen für die Brille fürs Volk, die ers-
ten „Kassenbrillen“ kündigten sich an.
Im darauffolgenden Jahrhundert ent-
wickelte sich Deutschland zur Hochburg
der Brillenproduktion. Dieses ermöglich-
ten die hohen handwerklich-technischen
Standards der Augenoptiker, die Kennt-
nisse der Augenheilkunde und die rasan-
ten Entwicklung auf dem Gebiet der Glas-
technik. Zeitgleich wurde die Brille deut-
licher als zuvor Instrument zum Ausdruck
von Persönlichkeit und Individualität.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
boomte das Design, ein zuvor nicht gese-
hener Formenreichtum drängte in den
Markt. Zudem hielten neue Werkstoffe
Einzug – in den 40ern eroberten Kunst-
stoffe die Fassungs- und die Glasindus-
trie. In den 80ern kam das Leichtmetall
Titan in die Branche. Heute sind Fassun-
gen mit weniger als 15 Gramm Standard.
Seit einigen Jahren wird zudem verstärkt
Wert auf die richtige Passform, Farbe und
Material für den jeweiligen Trägertypus
gelegt. Die Brille als reine Lesehilfe hat
sich damit selbst überholt.
Dieses geht sogar soweit, dass die
Scharfsichtigen mit den Fehlsichtigen
gleichziehen wollen und auch Brille tra-
gen – mit Plangläsern. Würde also Herr
Keller seine Novelle heute neu schreiben,
müsste ihr Titel vor diesem Hintergrund
heißen: „Brillen machen Leute“.
Mehr darüber, was in dieser Sonnen-
Saison den Brillentrend und ggf. Ihre Per-
sönlichkeit bestimmt, erfahren Sie, liebe
Leser, in der Rubrik Fashion. Riskieren
Sie einen Blick, aber lassen Sie sich nicht
blenden. Gut ist alles, außer brav.
Ihnen viel Freude beim Schmökern.
Ihre
EDITORIAL
Judith Kern
DOZ Chefredakteurin
Schreiben Sie uns Ihre Meinung!
Kleider machen Leute und
Brillen noch viel mehr
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