Auf Knopfdruck + 3,5 Dioptrien für einen Monat

Lens2Go-Automat
Die „to go“-Kultur setzt sich immer stärker durch.
© Lens2Go

Ein Supermarkt im Zentrum von Berlin: Links die Theke mit Backwaren, rechts davon gibt es Snacks und gekühlte Getränke zum Mitnehmen. Davor steht mitten im Raum ein Automat, und wer ihn zum ersten Mal sieht, reibt sich verwundert die Augen. Tatsächlich, Kontaktlinsen kann sich hier jeder nach Geldeinwurf aus den Schubladen ziehen. Packungen mit Eintages-, Zwei-Wochen- und Monatslinsen namhafter Hersteller liegen in den Slots, sortiert nach Dioptrienwert. Mit von der Partie sind Johnson & Johnson, Bausch + Lomb, Ciba Vision und Cooper Vision. Über der Glasscheibe informiert eine Bildleiste zu den einzelnen Produkten, nennt auch Material, Wassergehalt, Typ, Durchmesser, Radius und Sauerstoffdurchlässigkeit. Zwei Produkte haben einen UV-Filter, erfährt man außerdem. Der Preis für eine Packung mit (je nach Typ) sechs oder 30 Linsen bewegt sich zwischen 20 und 30 Euro. „Lens to go“, Kontaktlinsen im Vorbeigehen kaufen wie eine Latte macchiato oder einen Sandwich. Dahinter verbirgt sich die Lens2Go GmbH, groß steht die zugehörige Homepage auf dem Automaten.

„Wir sind die ersten in Berlin, die Kontaktlinsen auf diese Weise verkaufen“, sagt Fjodor Zatchinaev stolz. Er betreibt eine Marketingagentur, kooperiert dabei mit Ali Maneev, dem Geschäftsführer von Lens2Go. Vor knapp einem Jahr haben die beiden begonnen, mehrere Berliner Stadtteile mit den Automaten zu bestücken, bisher vor allem Edeka-Märkte. Doch das ist erst der Anfang. „Wir planen weiter zu expandieren und konnten schon neue Partner gewinnen. Schon bald werden Berliner und Gäste noch mehr Automaten finden, auch an anderen Standorten.“ Näheres dazu möchte der  Werbefachmann zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Die Idee hinter dem Geschäftsmodell: Kontaktlinsenträger, die zum Beispiel im Schwimmbad eine Linse verloren haben oder zu Besuch in der Stadt sind, sollen sich schnell mit Ersatz versorgen können. „So wie man sich ja auch an einigen Stränden Flip-Flops oder hier in Berliner S-Bahnstationen Bücher aus Automaten ziehen kann, wenn einem unterwegs so etwas fehlt.“ In der Bundeshauptstadt hat sich in den vergangenen Jahren eine regelrechte Automatenkultur entwickelt. Ob Maden als Köder für Angler, flache Ballerinas für Party-Mädels, denen die Füße vom Tanzen in High Heels weh tun, oder der „Gebetomat“ mit 300 Gebeten in 65 Sprachen – Ungewöhnliches bekommt man hier per Knopfdruck.

Kaufversprechen: Kontaktlinsen in einer Minute

Bei den Kontaktlinsenautomaten, verkündet Lens2Go auf der eigenen Homepage, geht es „genau so unkompliziert wie bei allen anderen Automaten: Wählen Sie die Kontaktlinsen, zahlen Sie den Betrag und entnehmen Sie Ihre Ware.“ Der Kauf, wird dabei versprochen, dauert nicht länger als eine Minute. Dabei wird klargestellt, dass Kunden gemeint sind, die der Augenarzt bereits beraten hat und denen dieser die richtigen  Kontaktlinsen  empfohlen hat: „Dann können Sie die passenden Kontaktlinsen in unseren Verkaufsautomaten kaufen.“ Auch an den Automaten selbst findet sich ein entsprechender Warnhinweis. Die Augenoptiker indes werden dabei ausgeklammert. „Das ist nicht unser Part“, kommentiert Zatchinaev, räumt aber ein, dass man sich „natürlich auch beim Optiker zu Kontaktlinsen beraten lassen“ kann. Auch könne der Automat den Menschen nicht ersetzen, weshalb die Kunden bei Problemen eine Hotline anrufen könnten.

„Wenn eine Packung klemmt oder ein Umtausch nötig ist, kommt innerhalb von 30 Minuten ein Techniker.“ Was aber macht ein Kunde, wenn die Kontaktlinsen Beschwerden verursachen – wenn er es denn auf Anhieb merkt? Eine Nachkontrolle wie beim Augenoptiker ist schließlich nicht möglich. „Das passiert in der Regel aber nicht“, ist sich Zatchinaev sicher. „Unsere Kunden wissen ja, welche Linsen sie benötigen.“ Bedenken, dass etwa unerfahrene Brillenträger die Automaten nutzen könnten, um Kontaktlinsen einfach mal auszuprobieren, hat er auch nicht: „Es gibt doch keiner Geld für ein Produkt aus, das er nicht kennt.“

Die bisherige Resonanz der Kunden ist laut der Betreiber positiv, ein Automat im Stadtteil Friedrichshain habe sich zum Bestseller entwickelt. „Den nutzen auch viele junge Touristen aus Ländern wie Japan, China oder den USA.“ Entsprechend sind die Nutzer-Kommentare bei Facebook. „Schatz, ich geh mal schnell zum Automaten Kontaktlinsen holen …“ – einfach „genial“ findet etwa Cornelia Eilert diese Idee. Sie betreibt das Portal www.linsenloesung.de, auf dem sich wiederum Links zu Online-Angeboten von Monatslinsen, Pflegemitteln und Kontaktlinsenbehältern finden. Immerhin wird dort auch mehrfach klargestellt, dass in jedem Fall vor dem ersten Tragen ein Augenoptiker oder Augenarzt die Linsen anpassen muss, um die Augengesundheit zu bewahren. Auch wird darauf hingewiesen, dass beim Augenoptiker meist das „Einsetzen“ und „Herausnehmen“ geübt wird.

Dr. Lubos Frano
Augenarzt Dr. Lubos Frano ©privat

„to go“-Kontaktlinsen für Vielflieger vom Augenarzt

Am Flughafen Berlin-Tegel gibt es „Kontaktlinsen für Vielflieger“ per Knopfdruck. Dieser Automat steht „erfahrenen Linsenträgern“ zur Verfügung, heißt in einem Blog, der darauf aufmerksam macht. Gemeint sind damit „Menschen, die bereits eine professionelle Anpassung absolviert haben und Linsenträger sind“, erklärt Augenarzt und Eigner des Automaten, Dr. Lubos Frano. Der Makulaspezialist betreibt außerdem zusammen mit Kollegen eine Praxis im Stadtteil Schöneberg und das Augenkraft Institut. Letzteres bietet über die Homepage www.augenkraft.com speziell Patientenservice sowie Produkte rund um Kontaktlinsen an. „Eine ärztliche Erstanpassung oder Erstanpassung beim Optiker ist immer erforderlich“, bestätigt er auf Rückfrage und ergänzt: „Augenoptiker sind wichtige Partner der Augenärzte“. Für die Idee begeistert hätten ihn und sein Team ihre Linsenträger, die auch Vielflieger sind. „Kontaktlinsen werden beim Packen für den Urlaub oft zu Hause vergessen.“ Mit Herstellern kooperiert er nicht. „Wir haben nur unsere eigenen Statistiken benutzt: Welche Linsenstärke ist die meist gefragte und welche Packungsgröße ist kompatibel mit dem Automaten.“ Sie hätten schon kurz davor gestanden, noch mehr Automaten an dem neuen Flughafen BER in Berlin aufzustellen. Dazu sei es leider nicht gekommen. Doch das könnte sich noch ändern. „Klar, Firmen, die Interesse haben mit Augenkraft Berlin zu arbeiten sind willkommen.“

Auch Frano bewertet die Resonanz beim Kunden als sehr gut. „Wir erhalten oft ein positives Feedback.“ Ihm ist bewusst, dass verführerisch schnell erhältliche Kontaktlinsen auch Risiken bedeuten. „Ich habe Bedenken und Erfahrungen aus meiner 20-jährigen augenärztlichen Tätigkeit, dass sich zunehmend Kids und Teenager ohne Anpassung Linsen im Internet und in Drogerie-Märkten an jeder Ecke kaufen und Videos im Netz anschauen können, zum Thema ‚wie kriege ich die Linse ins Auge rein‘. Das ist ein  Fakt.“ Der zweite Fakt sei eine Zunahme der Augenentzündungen  in  solchen  Fällen. „Wir klären alle unsere Patienten  und Eltern auf, die Erstanpassung beim Optiker oder Augenarzt durchführen zu lassen. Die Aufklärung erfolgt direkt bei uns im Augenkraft Institut oder auch in Beiträgen in den Sozialen Netzwerken.“

Haftungsausschluss bei „to go“-Kunden

Auch andere Experten halten es für gefährlich, darauf zu vertrauen, dass die Kunden es schon nicht zu sorglos handhaben werden. Bei Augenoptiker Kelb in Hamburg-Wandsbek etwa schüttelt man den Kopf über den neuen Trend. „Viele, die solche Automaten sehen, werden sich spontan sagen:  Oh  Kontaktlinsen, das probiere ich mal aus!“ befürchtet Olaf Rehfeld, Kontaktlinsenspezialist in dem alteingesessenen Familienbetrieb. „Und dabei kann bekanntlich einiges schiefgehen. Der „to go“-Trend macht sich auch bei Kelb bemerkbar: Viele Neukunden möchten mal eben Eintages- oder Monatslinsen kaufen, ohne dass einer der Experten ihnen genauer ins Auge schaut. In solchen Fällen klären Rehfeld und seine Kollegen über die Risiken auf und lassen den Kunden einen Haftungsausschluss unterschreiben. Darin steht, dass die Kontaktlinsen auf eigenen Wunsch, auf eigenes Risiko ohne Anpassung und Einweisung ausgehändigt werden und dass auf die Gefahr einer Hornhautschädigung hingewiesen wurde. „Wir haben aufgrund der Online-Angebote und des Preisdrucks auch unsere Ware angepasst. Die Linsen sind günstiger und Services, wie die Nachkontrolle, kosten extra. Dafür können Kunden sicher sein, dass eine gesunde Lösung gefunden wurde.“ Per Abo-System mit Rundum-Sorglos-Paket können die Kunden ihre Kontaktlinsen auf unkomplizierte Weise auch online nachbestellen.

Dennoch läuft es darauf hinaus, dass man sich auch bei Kelb allmählich aus dem Geschäft mit Monats- und Austauschlinsen zurückzieht. „Die Hersteller werden wohl zunehmend nur noch Großkunden wie Internethändler beliefern, mit der Konsequenz, dass die Kontrolle der Augen immer mehr vernachlässigt wird – zu Lasten der Gesundheit.“ Zwar gibt es die Möglichkeit, sich auf die Schnelle Kontaktlinsen im Internet oder Drogerien zu kaufen, schon länger. „Nach einer vernünftigen Erstanpassung ist dagegen prinzipiell auch nichts einzuwenden“, betont Rehfeld. „Doch bei Automaten könnte die Hemmschwelle, spontan zuzugreifen, noch weiter sinken.“

Bedeutung der Produkteigenschaften vermitteln

Ähnlich sieht man es auch in der Schweiz. „Automaten senden eine andere Botschaft aus“, findet Katja Thiede, Bloggerin auf www.letslens.ch, dem Kontaktlinsenportal des Branchenverbands Optics Swiss Suppliers Association. „Sie stellen Kontaktlinsen in eine Reihe mit Cola und Gummibärchen. Dingen, die ich mir aus einer aktuellen Gefühlslage heraus ziehe, weil ich gerade Lust drauf habe. Oder eben keine Lust und Zeit habe, mir Gedanken darüber zu machen, was mein Körper jetzt braucht. Hauptsache süß und satt – und das möglichst schnell.“ Anders als beim unreflektierten Umgang mit Süßigkeiten könne das unüberlegte Hantieren mit Kontaktlinsen aber weitaus schlimmere Folgen für die Gesundheit haben. Auch der Hinweis auf die unverzichtbare Erstanpassung bringt nach Ansicht der Bloggerin wenig. „Wer keine Lust hat, drei Monate auf einen Augenarzttermin zu warten, wird damit beruhigt, dass es sich ja um Linsen der ‚weltweit besten‘ Hersteller handelt.“

Angaben zu den Produkten helfen nach ihrer Einschätzung ebenfalls kaum weiter. So können Laien mit Begriffen wie Wassergehalt oder Sauerstoffdurchlässigkeit in der Regel nicht viel anfangen oder könnten gar die Werte falsch interpretieren – wie Katja Thiede beschreibt, zum Beispiel so: „Wenn ich also zu trockenen Augen neige, nehme ich die Linse mit mehr Wasser drin. Klingt erst mal logisch. Dass der Wassergehalt einer Kontaktlinse nichts darüber aussagt, wie gut verträglich sie tatsächlich für das Auge ist, weiß der Erstnutzer natürlich nicht. Muss er ja auch gar nicht, denn dafür gibt es Fachleute, die Linsen anpassen.“
Auch andere Produkteigenschaften sind laut Thiel Anknüpfungspunkte bei der fachlichen Beratung. „Bei der Sauerstoffdurchlässigkeit ist die Denkweise vermutlich ähnlich: mehr Sauerstoff ist gleich bessere Linse.“ Darin liegt nun also auch weiterhin der Wert der Beratung und Erstanpassung begründet, nur, wer heftet diese Information an alle Automaten?  

Christine Lendt