Zuschuss oder nicht, das ist hier die Frage

Aufgestapelte Münzen und Hände, die danach greifen
Brille auf Rezept - aber für wen?
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Wie viele Brillenträger kommen durch das Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) in den Genuss eines Krankenkassenzuschusses? Die DOZ hat die Entwicklung rund um das HHVG von Beginn an begleitet und wartet wie die Branche nun auf die Richtlinie zur Umsetzung, die bekanntermaßen nach dem „Einspruch“ durch das Bundesministerium für Gesundheit noch überarbeitet werden muss. Eine gute Gelegenheit also einmal nachzuforschen, wie viele Brillenträger in Zukunft überhaupt in den Genuss des Krankenkassenzuschusses kommen werden; denn diese Frage konnte bislang niemand beantworten. Die vorliegende Untersuchung versucht, diese Wissenslücke zu schließen.

Mit dem Inkrafttreten des HHVG erhalten erwachsene Brillenträger mit einer hohen Fehlsichtigkeit einen Zuschuss von ihrer Krankenkasse. Die Fehlsichtigen, die von der neuen Regelung erfasst werden, freut es; die Krankenkassen müssen erhebliche Mehrkosten tragen. Wie hoch diese sind, hängt natürlich von der Zahl der Anspruchsberechtigten ab. Und um das herauszufinden, stellte die Firma Euronet Software AG dem Autor freundlicherweise Daten in anonymisierter Form zur Verfügung. Die hier vorgelegte Analyse basiert auf diesen, in der Euronet-Datenbank enthaltenen Refraktionswerten, die wiederum aus der Betriebssoftware zahlreicher mittelständischer Augenoptiker in Deutschland stammen.

Basis: knapp vier Millionen Datensätze

Vor der Auswertung wurde die Datenbank zunächst bereinigt. Danach standen von den ursprünglich knapp vier Millionen Datensätzen noch 3.336.215 zur Verfügung. Diese stammen von Personen im Alter von 1 bis 99 Jahren, die in der Zeit von Januar 2000 bis März 2016 eine neue Brille mit zwei Gläsern bekommen hatten. Insgesamt basiert die hier vorgestellte Untersuchung also auf 6.672.430 Refraktionswerten.

Vom 10. bis zum 30. Lebensjahr enthält die Datenbank für jedes Lebensjahr knapp 30.000 Brillenkäufe. Mit dem Einsetzen der Alterssichtigkeit steigt die Anzahl der verkauften Brillen steil an, weil dann alle Brillenträger zusätzlich mit Mehrstärken- oder Gleitsichtbrillen versorgt werden und außerdem auch die emmetropen und schwach hyperopen Kunden erstmals eine Brille bekommen. Die Anzahl der verkauften Brillen in der Datenbank erreicht zwischen dem 46. bis und 51. Lebensjahr Werte von deutlich über 70.000 Brillen pro Lebensjahr. Danach fällt die Anzahl bis zum 100. Lebensjahr kontinuierlich ab bis fast auf Null.

Auswertungskriterien

Nach den derzeit bekannten Ausführungsbestimmungen des HHVG besteht ein Anspruch gegenüber der Kasse, wenn der gesetzlich festgelegte Grenzwert für die Brillenglasstärke auf einem Auge überschritten wird. Bei astigmatischen Refraktionswerten ist die optische Wirkung im stärksten positiven beziehungsweise negativen Hauptschnitt maßgeblich. Bei dieser Analyse wurden deshalb für jedes Lebensalter alle Brillenträger gesucht, deren Refraktionsfehler auf  mindestens
einem Auge eins oder zwei der folgenden Kriterien erfüllte:

  • Kriterium 1: schwächster Hauptschnitt kleiner als - 6 dpt ( = hohe Myopie) oder
  • Kriterium  2:  stärkster Hauptschnitt stärker als + 6 dpt ( = hohe Hyperopie) oder
  • Kriterium 3: Zylinder stärker als + 4 dpt (in  Pluszyl-Schreibweise)

Ergebnisse

Anteil der hohen Myopien und Hyperopien nach Kriterium 1 oder 2

Bei 6,5 Prozent aller Brillenträger zwischen 19 und 99 Jahren war die Fehlsichtigkeit auf mindestens einem Auge stärker als plus oder minus 6,0 dpt sphärisch oder stärker als 4,0 dpt astigmatisch. Diese Kunden haben nach HHVG Anspruch auf einen Krankenkassenzuschuss.

Hohe Myopie
Abb. 1: Prozentualer Anteil der
Personen mit einer hohen
Myopie stärker als –6 dpt
oder einer hohen Hyperopie
stärker als +6,0 dpt innerhalb
der Gesamtheit der Brillenträger.

Abbildung 1 veranschaulicht die Häufigkeit der hohen Myopien und Hyperopien nach Kriterium 1 oder 2 als Funktion des Lebensalters. Die durchgezogenen Linien gelten für  die  Myopie. Gestrichelt  sind die Kurven für die Hyperopie. Die grünen Linien zeigen, wie häufig der Refraktionsfehler des rechten Auges stärker als minus 6,0 beziehungsweise stärker als plus 6,0 dpt war. Die roten Linien gelten  für  das linke Auge. Die blaue Linie kennzeichnet, wie häufig mindestens ein Auge den Grenzwert von 6,0 dpt übertraf. Diese Linie verläuft natürlich höher als die rote und die grüne Linie, weil zum Beispiel auch ein Kunde mit R -6,25 dpt und L -5,0 dpt zu den Anspruchsberechtigten zählt.

Im Alter von sieben Jahren haben weniger als ein Prozent der Kinder, die eine Brille tragen, eine Myopie von mehr als -6 dpt. In der Schulzeit steigt die Anzahl der Kurzsichtigen steil an. Immer mehr Kinder überschreiten dann die Grenze von -6,0 dpt. Mit 16 Jahren sind fünf Prozent aller Brille tragenden Kinder mindestens auf einem Auge hochmyop. Mit 25 Jahren sind es 7,6 Prozent. Die durchgezogene blaue Linie erreicht ihr Maximum zwischen dem 30. und 34. Lebensjahr. Dann ist bei über 8,8 Prozent aller Brillenträger mindestens auf einem Auge ein Hauptschnitt stärker als - 6,0 dpt. Nach dem 40. Lebensjahr fällt der prozentuale Anteil der Hochmyopen in Abbildung 1 stark ab. Dies liegt aber nicht daran, dass die Hochmyopen zahlenmäßig seltener werden, denn eine einmal erworbene hohe Myopie verschwindet im Laufe des Lebens nicht wieder von allein. Die prozentuale Abnahme kommt vielmehr durch die rasant zunehmende Anzahl der Brillenkäufe durch schwach Fehlsichtige infolge des Einsetzens der Presbyopie zustande. Die Zahl der Hochmyopen wird also nicht absolut, sondern nur relativ zur Gesamtzahl aller Brillenkäufe weniger.

Vergleichsweise wenige Hochhyperope

Kunden mit Zylinderstärke
Abb. 2: Prozentualer Anteil der
Kunden mit einer Zylinderstärke
von mehr als
4,0 dpt innerhalb der Gesamtheit
der Brillenträger.

Im Vergleich zur Häufigkeit der Hochmyopen ist die Prozentzahl der Hochhyperopen mit mehr als + 6,0 dpt klein. Von den Brillen, die an 20 bis 50 Jahre alte Kunden verkauft wurden, haben jeweils weniger als ein Prozent einen stärkeren Brechwert als + 6,0 dpt. Nach dem 50. Lebensjahr steigen die gestrichelten Kurven leicht an. Dies könnte zum Teil an der physiologischen Hyperopisierung im Alter liegen. In Abbildung 2 ist die Häufigkeit der Brillen mit einer Zylinderstärke von mehr als 4,0 dpt dargestellt. Die Prozentzahlen sind im Vergleich zu Abbildung 1 klein. Sie schwanken bei den 19 bis 90 Jahre alten Brillenträgern zwischen 0,21 und 1,34 Prozent. Deutlich sichtbar ist der Abfall der Kurven oberhalb von etwa 45 Jahren. Der Abfall bedeutet – genau wie in Abbildung 1 – aber nicht, dass die absolute Anzahl der Brillenträger mit einer hohen Zylinderstärke mit zunehmendem Alter kleiner wird. Er entsteht dadurch, dass die Anzahl der Brillenträger mit  schwachen Fehlsichtigkeiten infolge des Einsetzens der Presbyopie immer größer wird.

Die Tabelle 1 fasst die drei blauen Kurven von Abbildung 1 und 2 zusammen. Dabei wurden jeweils zehn Lebensjahre gebündelt. In den untersten zwei Zeilen wurden zusätzlich noch die Altersgruppen 1 bis 99 und älter als 18 bis 99 Jahre ergänzt. Die unterste Zeile fasst die Kernaussage dieser Arbeit in wenigen Zahlen zusammen. Sie besagt, dass im Mittel über alle Brillen, die an Erwachsene von 19 bis 99 Jahre verkauft wurden, 4,6 Prozent der Menschen mindestens auf einem Auge hohe Minuswerte von mehr als -6,0 dpt aufwiesen. 1,4 Prozent hatten Pluswerte vom mehr als 6 dpt. 0,8 Prozent hatten eine Zylinderstärke von mehr als 4,0 dpt. 6,5 Prozent aller Brillenträger hatten entweder eine hohe Myopie oder eine hohe Hyperopie oder einen hohen Astigmatismus.

Häufigkeit hoher Brillenstärken
Tabelle 1: Häufigkeit hoher Brillenstärken in verschiedenen Lebensaltern. Die Zahlen geben
an, bei wie viel Prozent der verkauften Brillen die genannten Kriterien auf mindestens
einem Auge erfüllt waren.

Mögliche Fehler

Die hier vorgelegten Ergebnisse werden von vielen Faktoren beeinflusst. Vier sollen hier beispielhaft genannt werden:

  • die Datenbank enthält keine Angaben über Kontaktlinsenträger. Gerade für Hochmyope sind Kontaktlinsen aber ein besonders empfehlenswertes Korrektionsmittel. Deshalb könnte der Prozentsatz der Hochmyopen unter den Kontaktlinsenträgern höher sein als unter den Brillenträgern. Eine Berücksichtigung der Kontaktlinsenträger könnte deshalb die Prozentzahl nach Kriterium 1 in Tabelle 1 erhöhen.
  • die Datenbank enthält nur Brillendaten von mittelständischen Augenoptikbetrieben. Die Daten der großen Filialisten fehlen. Es ist dem Autor nicht bekannt, ob Kunden mit hohen Fehlsichtigkeiten einen dieser beiden Vertriebswege bevorzugen. Wenn dies so wäre, könnten sich die Prozentwerte ebenfalls verändern.
  • die ausgewerteten Daten gelten für Brillen, die von 2000 bis 2016 verkauft wurden. Sie gelten nicht zwangsläufig auch für die kommenden Jahre, da die Kurzsichtigkeit unter den 20 bis 30-Jährigen wesentlich häufiger vorkommt als in der älteren Generation. Deshalb ist zu erwarten, dass die Prozentzahl nach Kriterium 1 in Tabelle 1 im Laufe der nächsten Jahre ansteigen wird.
  • schließlich  spielt  auch  der  Wiederbeschaffungsrhythmus eine wichtige Rolle. Es könnte sein, dass sich die hochgradig Fehlsichtigen nach Inkrafttreten des HHVG seltener als bisher eine neue Brille kaufen werden, weil sie zunächst die von der Kasse geforderte minimale Stärkenänderung von 0,5 dpt abwarten oder den erhöhten Aufwand der Rezeptbeschaffung scheuen.

Wie viele Personen haben Anspruch?

Nach der Allensbach Brillenstudie 2014 trugen in den Jahren 2005 bis 2014 konstant 40,0 plus / minus 0,5 Millionen der Erwachsenen ständig oder gelegentlich eine Brille [1]. Wenn man diese Zahl zugrunde legt, kann man die Zahl der Anspruchsberechtigten zumindest näherungsweise abschätzen. Man erhält 6,5 Prozent von 40 Millionen = 2,6 Millionen Personen.

Die Zahl 2,6 Millionen ist erheblich höher als man nach den ersten Schätzungen zu Beginn dieses Jahres vermuten konnte. Die Ursache für die Differenz liegt in der Tatsache, dass die genauen Bewilligungskriterien damals noch nicht bekannt waren. Deshalb muss zum Abschluss darauf hingewiesen werden, dass kleine sprachliche Unterschiede und Auslegungen extrem große Auswirkungen haben können. In seiner Pressemitteilung vom 16. Februar 2017 schreibt das Bundesgesundheitsministerium zum Beispiel: „Künftig erhalten auch die Versicherten, die wegen einer Kurz- oder Weitsichtigkeit Gläser mit einer Brechkraft von mindestens sechs Dioptrien oder wegen einer Hornhautverkrümmung von mindestens vier Dioptrien benötigen,  einen  Anspruch  auf Kostenübernahme …“

Diese Aussage stimmt aber nicht mit dem Gesetzestext vom 4. April 2017 überein, denn dort heißt es: „Für Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, besteht der Anspruch auf Sehhilfen, wenn sie … 2. einen verordneten Fern-Korrekturausgleich von mehr als sechs Dioptrien bei Myopie oder Hyperopie und mehr als vier Dioptrien bei Astigmatismus aufweisen.“

Auswirkung von 0,25 Dioptrien

Welche Auswirkungen hat der Unterschied zwischen „mindestens vier oder sechs Dioptrien“ und „mehr als vier oder sechs Dioptrien“? Im ersten Fall zahlt die Kasse bereits ab + / - 6,0 beziehungsweise einer Zylinderstärke von 4,0 dpt. Im zweiten Fall zahlt die Kasse erst ab einem Refraktionsfehler von + / - 6,25 beziehungsweise einem Zylinderwert von 4,25 dpt. Dieser Unterschied von nur 0,25 dpt führt dazu, dass nach der Pressemitteilung des Ministeriums 7,9 Prozent aller Brillen von der Krankenkasse – also etwa 3,16 Millionen Personen über 18 Jahre – unterstützt werden müssten.

Nach dem Gesetzestext sind es nur 6,5 Prozent – also etwa 2,6 Millionen Personen. Noch einmal deutlich kleiner wird die Zahl der Anspruchsberechtigten, wenn gefordert würde, dass das sphärische Äquivalent oder der Zylinder in beiden Augen stärker als 6 dpt beziehungsweise 4 dpt sein muss. Dann hätten nur 3,0 Prozent der Brillenträger also etwa 1,2 Millionen einen Anspruch. Diese drei Beispiele zeigen, wie wichtig die Durchführungsbestimmungen sind.

Bei der Bewertung dieser Zahlenwerte darf man übrigens nicht vergessen, dass unter den oben genannten Personen viele sind, die bereits nach der alten gesetzlichen Regelung einen Anspruch auf eine Sehhilfe haben, da ihre Sehschärfe nicht besser als 0,3 ist.

von Wolfgang Wesemann


Quellen
Allensbach Brillenstudie 2014, Anhang A, Bundesbürger über 16 Jahren
Euronet Software AG (2017)
Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (HHVG) vom 4. April 2017
Pressemitteilung des Bundesgesundheitsministeriums vom 16.2.2017