Stürmisch mit Rückenwind: Sicht.Kontakte 2017

Xavier kam vielen Augenoptikern und Optometristen in die Quere. Die, die es nach Hamburg schafften, wurden mit Feueralarmen und einem Feuerwerk der Fortbildung auf Trab gehalten.
Xavier kam vielen Augenoptikern und Optometristen in die Quere. Die, die es nach Hamburg schafften, wurden mit Feueralarmen und einem Feuerwerk der Fortbildung auf Trab gehalten.
© Peter Magner/ZVA

Sturm Xavier hat bundesweit viele Zugreisende am zweiten Oktoberwochenende in unterschiedlichen Städten stranden lassen und ihr Durchkommen nach Hamburg, dem Veranstaltungsort des optometrischen Fachevents „Sicht.Kontakte 2017“, erschwert, wenn nicht sogar vereitelt. Dennoch erreichten viele Augenoptiker und Optometristen auf anderen Wegen den Norden: Der Zentralverband der Augenoptiker und Optometristen (ZVA), die Vereinigung Deutscher Contactlinsen-Spezialisten und Optometristen e. V. (VDCO) und die internationale Vereinigung für binokulares Sehen (IVBS) hatten die drei Tage voller Fortbildung gemeinsam organisiert und lockten viele Sehexperten vom 6. bis 8. Oktober an den Tagungsort „Emporio Tower“ im Zentrum der Hansestadt.

Turbulent ging es an dem Wochenende auch noch anderweitig zu: Zweimaliger Feueralarm trieb die Tagungsgäste zunächst am Freitag aus dem 23. Stock des Emporio Towers auf den Vorplatz und dann am Sonntag verfrüht aus den Hotelzimmern. Trotz der Widrigkeiten waren alle drei Tage den Veranstaltern zufolge „sehr gut besucht“: Am Freitag kamen insgesamt rund 270 Interessenten zur VDCO ’17, die mit der Contact ’17 und der Optometrie ’17 zwei eigenständige Tagungen einschloss; am Samstag zog es insgesamt etwa 480 Experten zu den Parallelveranstaltungen VDCO ’17, IVBS-Praxistag und ZVA-Obermeistertagung, und am Sonntag nahmen rund 330 Augenoptiker und Optometristen am Tag der Optometrie teil. Diesen hatten die drei Verbände inhaltlich und organisatorisch gemeinsam auf die Beine gestellt.

Auch das Networking kam an diesem Wochenende nicht zu kurz: Bei einem eindrucksvollen Ausblick über die Hamburger Skyline schlossen sich Augenoptiker, Optometristen und Industrievertreter in den Pausen und zwischen den Vorträgen kurz. Dabei waren in den Gesprächen auch das in der Branche heftig umstrittene Heil- und Hilfsmittelverordnungsgesetz (HHVG) und seine Auswirkungen auf den augenoptischen Alltag tonangebend. Die mit circa 30 Ausstellern umfangreiche Industrieschau war ein weiteres Highlight des Wochenendes.

Myopieversorgung als Leitthema der VDCO

Am Freitag startete die VDCO mit ihrem Tagungsprogramm zur Contact ’17 und Optometrie ’17, das die Verantwortlichen clever geplant hatten. Die Vorträge und Workshops fanden an beiden Tagen in jeweils vier Vortragsblöcken über Kreuz statt, sodass Interessenten den fachlichen Input maximal ausschöpfen konnten. Das breite Spektrum an wissenschaftlichen und praxisorientierten Vorträgen einte „die Myopieversorgung“ als übergeordnetes Thema: „Einmal auf optometrischer Ebene, die Ätiologie und der Verlauf der Myopieprogression. Offensichtlich scheint sie ja multifaktoriell zu sein. Und auf der anderen Seite geht es in der Kontaktlinse darum, wie man die Myopieprogression abbremsen kann: mit Ortho-K, mit Mehrstärkenlinsen auch für junge Leute“, erklärte Maarten Hobé, nunmehr ehemaliger VDCO-Vorsitzender. Außerdem sei spürbar gewesen, dass in der Kontaktlinse die Hochfrequenzanpassung abnehme: Auf der einen Seite gebe es die individuelle Anpassung und die Anpassung mit einem Konzept; auf der anderen Seite die Augenoptiker, die sich nur gelegentlich der Linse widmeten und sich auf die Tages- oder Monatslinsen beschränkten.

Des Weiteren wählte die Mitgliederversammlung der VDCO Stephan Hirschfeld mit einer Enthaltung zu ihrem neuen 1. Vorsitzenden – was er im neuen Amt vorhat, erzählte Hirschfeld der DOZ im Interview. Als stellvertretende Vorsitzende wurden Esther Adam-Pennewitz und Ralf Bachmann gewählt. Hirschfeld trat damit die Nachfolge von Hobé an, der sich nach fast 20-jähriger Vorstandsarbeit nicht mehr zur Wahl stellte. Dieser zog eine positive Bilanz seiner langjährigen Vorstandsarbeit: „Inhaltlich bin ich der Auffassung, dass wir die Kontaktlinsenanpassung gefühlt aus dem Elfenbeinturm herausgeholt haben. Das wurde uns auch schon zu VDC-Zeiten immer vorgeworfen. Ich denke, dass wir das Image ablegen konnten und dennoch für Qualität stehen und die spezialisierte Kontaktlinsenanpassung weiter nach vorne bringen konnten.“ Man habe, so Hobé, die Kontaktlinsenanpassung salonfähig und wirtschaftlich gemacht. Und selbiges gelte auch für die Optometrie. Als Grund für seinen Rückzug nannte er scherzhaft seinen „Drang nach weiterer Fortbildung, um sich selber mal wieder nach vorne zu katapultieren.“

ZVA stellte HHVG und Datenschutz in den Vordergrund

Parallel zum VDCO-Programm fand in Hamburg die Obermeistertagung des ZVA statt. Allerdings nicht in luftiger Höhe im 23. Stock, sondern im Untergeschoss des Towers. Manch einer fühlte sich zu Beginn an einen abhörsicheren Konferenzraum des Pentagon erinnert. ZVA-Präsident Thomas Truckenbrod schlug eingangs mit Blick auf Xavier und seine Auswirkungen „Vom Winde verweht“ und „Ihr habt das Leben in vollen Zügen genossen“ schmunzelnd als Motti für das Vierfachevent in Hamburg vor.

So erreichte auch der Vizepräsident der Handwerkskammer Hamburg, Hjalmar Stemmann, die Tagung mit Verspätung. In seinem nachträglichen Grußwort brachte er dann auf den Punkt, „dass früher oder später jeder einen Augenoptiker braucht“. Maßstab der Branche sei Qualität, und diese Qualität sicherten Meistertitel und Qualifikation. Damit das so bleibe, riet er, weiter am Ball zu bleiben – und zwar gemeinschaftlich.

Wie zuvor schon in Kollegengesprächen war das HHVG auch beim ZVA ein zentrales Thema. Truckenbrod wies darauf hin, dass der im Gesetz verankerte „verordnete Fernkorrekturausgleich“ zwar nur eine Minderheit der Brillenträger betreffe, aber dennoch eine ureigene Tätigkeit der Augenoptiker angreife, nämlich die Refraktion. „In den vergangenen Wochen hat sich gezeigt, dass die Branche geschlossen reagiert hat und aktiv geworden ist. Ich plädiere weiterhin für die Bündelung unserer Kräfte und werde nicht müde zu betonen, wie wichtig es ist, eine starke Einheit zu bilden – auch, wenn das natürlich bedeutet, Kompromisse zu schließen“, erklärte er. Zahlreiche Innungsbetriebe, darunter auch die Filialisten Fielmann und Apollo, hatten sich diesbezüglich an ihre Bundestagsabgeordneten gewandt; der ZVA hatte seine Öffentlichkeitsarbeit intensiviert. Die im Juli beschlossene Hilfsmittelrichtlinie, die die Versorgungsdetails nach HHVG-Vorgaben festschreibt, wird danach frühestens Anfang kommenden Jahres in Kraft treten. In jedem Falle aber habe man das Ziel erreicht, Öffentlichkeit herzustellen, so ZVA-Geschäftsführer Dr. Jan Wetzel. „Ich bin optimistisch. Bisher wurden immer Lösungen gefunden“, ergänzte Truckenbrod. Weitere Themen aus dem ZVA waren der Wiedereintritt der Augenoptikerinnung Mittel-Unterfranken, die Situation der Berufsverbände in der Schweiz, der Rahmenlehrplan für die Meisterprüfung, der Rechtsstreit mit der 4Care GmbH und die Fusion der Konzerne Essilor und Luxottica.

Das Auditorium während der ZVA-Obermeistertagung.
Das Auditorium während der ZVA-Obermeistertagung. ©Peter Magner / ZVA

Der neuen europäischen Datenschutzverordnung (EU-DSGV), die ab dem 25. Mai kommenden Jahres greift, waren am Nachmittag gleich mehrere Vorträge gewidmet. Sie sieht tiefgreifende Neuregelungen für mittelständische Betriebe vor: Darunter seien, so Gerd-Jürgen Golze, Datenschutzbeauftragter der Zahntechniker, zahlreiche Pflichten für Betriebe, so auch die stärkere Berücksichtigung der Kundenrechte, deren personenbezogene Daten laut Gesetz besonderen Schutzes bedürfen. Dieses wird dem Vortrag von Sabine Siekmann, Wettbewerbszentrale in Hamburg, zufolge unter anderem konkret, sobald es um die Verwendung von Kundendaten für Werbezwecke geht.

Den geplanten Vertrag zwischen dem ZVA und den AOKen stellte Sigrun Schmitz, ZVA-Abteilungsleiterin Betriebswirtschaft und Krankenkassen, im Rahmen der Obermeistertagung vor. Ziel sei es, die Abrechnungen mit den genannten Krankenkassen auf der Grundlage eines einheitlichen Vertrags zu vereinfachen, so Schmitz. Zuvor hatte der ZVA-Vorstand dem Abschluss des Vertrages zugestimmt. Nun gelte es noch ein paar Details zwischen dem AOK-Bundesverband und dem Verband in Düsseldorf zu klären. Der Vertrag soll voraussichtlich ab Dezember in Kraft treten.

Ebenfalls am Samstag ergänzte die IVBS – in diesem Jahr erstmals – die Sicht.Kontakte mit einem Praxistag. An den insgesamt vier Workshops zu den Themen Optometriemanagement, MKH, 3D-Refraktion und Dekompensation von Heterophorien nahmen jeweils bis zu 25 Interessenten teil.

Tag der Optometrie mit fachlicher Themenvielfalt

Am Sonntag mündete das Fachevent im Tag der Optometrie. Die Referenten griffen in ihren Vorträgen die Bereiche „Prismatische Korrektionen und Binokularsehen“, „Subjektive und objektive Refraktion“ und „Tränenfilm, Glaukom und retinale Gefäße“ auf. Georg Stollenwerk hieß die Gäste herzlich willkommen und führte durch das Programm. Professor Christoph von Handorff und Luise Schmid von der Beuth Hochschule für Technik Berlin starteten mit einem Referat über die Möglichkeit, mit der Video-Eyetracking-Technik objektiv motorische Vergenzfehlstellungen zu messen. Grundlage waren Ergebnisse einer Pilotstudie, die Schmid für ihre Bachelorarbeit durchgeführt hatte. Von Handorff wies eingangs auf die unterschiedlichen Bedeutungen der Termini FD nach Haase und Fixation Disparity hin.

Volkhard Schroth, Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten, berichtete anschließend über eine Schweizer Studie, die vermutlich zum ersten Mal einen objektiven Nachweis für die Wirksamkeit kleiner Prismen auf die Fixationsdisparität erbrachte. Dabei gehe es um Grundlagenforschung, so Schroth zum Auftakt seines Referats, und die zentrale Frage „was machen die beiden Augen, wenn sie im Alltag auf irgendetwas, zum Beispiel einen Computerbildschirm, schauen?“ Man wisse, wie umstritten das Thema Prismenkorrektion sei. „Wir hatten die Idee, Haase durch ein ganz einfaches System zu ersetzen, bei dem man nichts falsch machen kann.“ Im ersten Schritt wurde die Wirkung von Prismen nachgewiesen. Professor Dr. Christian Meltendorf, Augenarzt und Dozent an der Beuth Hochschule für Technik in Berlin, erläuterte schließlich anhand von Fallbeispielen, welchen Einfluss – in negativer oder positiver Hinsicht – refraktiv-chirurgische Eingriffe auf das Binokularsehen haben können.

Thomas Truckenbrod (li.), ZVA-Präsident, und Georg Stollenwerk, IVBS-Präsident, nehmen den neu gewählten 1. Vorsitzenden der VDCO, Stephan Hirschfeld, in die Mitte.
Thomas Truckenbrod (li.), ZVA-Präsident, und Georg Stollenwerk, IVBS-Präsident, nehmen den neu gewählten 1. Vorsitzenden der VDCO, Stephan Hirschfeld, in die Mitte. ©Peter Magner / ZVA

Den zweiten Vortragsblock eröffnete Professor Dr. Hans-Jürgen Grein von der Fachhochschule Lübeck. Er stellte anhand eigener Studien die traditionelle Refraktion mittels Kreuzzylinder neuen, objektiven Messmethoden gegenüber. Als Faktoren, die den Probanden und den Untersucher und damit auch die Refraktion beeinflussen, nannte Professor Grein Tagesform, Aufmerksamkeit, Beobachtungsfähigkeit, Zeitdruck, Tränenfilmqualität, Aderhautdicke, Stufung der Messgläser, Pupillenweite, Erkrankungen und Medikamente. Eine Studie aus Plön hatte ihm zufolge ergeben, dass „die subjektive Refraktion bei vielen Probanden nicht auf eine Viertel Dioptrie reproduzierbar ist.“ Professor Grein schloss, dass das Paradigma der Refraktionsbestimmung – „die objektive Refraktion ist immer besser als die subjektive“ – vor diesem Hintergrund „zumindest Risse bekommen hat“. Im zweiten Teil seines Vortrags stellte er unterschiedliche Techniktrends vor: Darunter auch die Verschmelzung von objektiver mit subjektiver Refraktion in einem Gerät, wie im Eye Refract der Firma Visionix. Als zweiten Trend nannte er die mobile Refraktion mit Hilfe unterschiedlicher Systeme.

Welche Auswirkungen die Einnahme bestimmter Medikamente auf die Refraktion haben kann, erläuterte Dr. Andreas Berke, Leiter der Höheren Fachschule für Augenoptik Köln. Von den insgesamt vier optischen Komponenten seien vor allem die Linse und die Hornhaut besonders anfällig für medikamentöse Nebenwirkungen, so der Referent. Als Konsequenz sind Refraktionsänderungen in Form von Myopisierung, Hyperopisierung, Presbyopisierung und meistens irregulären Astigmatismen möglich. Viele Medikamente könnten demnach die Refraktionsbestimmung beeinflussen, darunter Betablocker, Schilddrüsenpräparate, bestimmte Antibiotika und alle Medikamente, die in das Gehirn eindringen.

Über den Tränenfilm und seine zunehmende Bedeutung für Augenoptiker und Optometristen, beispielsweise für die Versorgung von Kunden mit Kontaktlinsen und die Refraktion, referierte Dr. Heiko Pult aus Weinheim. Er zeigte, wie sich ein Management des Trockenen Auges, das in der Regel multifaktoriellen Ursprungs ist, in der Praxis umsetzen lässt. Dass sich die Behandlungsmöglichkeiten des Grünen Star in den vergangenen Jahren erheblich erweitert haben, erläuterte anschließend Dr. Christian Wolfram, Augenarzt aus Hamburg. Neben Tropfen erklärte er auch chirurgische Eingriffe als mögliche Behandlungsformen. Für die Therapie der Zukunft stellte er in Aussicht, dass Präparate zum Beispiel als Sechsmonatsdepot ins Auge injiziert oder auch Mini-Stents gesetzt werden könnten.

Der Tag der Optometrie fand vor ausverkauftem Haus statt.
Der Tag der Optometrie fand vor ausverkauftem Haus statt. ©Peter Magner / ZVA

Der Tag der Optometrie schloss mit zwei Vorträgen zum Thema Netzhautgefäße: Professor Dr. Konstantin Kotliar, Fachhochschule Aachen, stellte vor, dass moderne bildgebende Verfahren die nicht invasive und objektive Untersuchung retinaler Gefäße und somit auch Rückschlüsse auf Erkrankungen ermöglichen. Er ordnete damit das Auge als diagnostisches Fenster für systemisch bedingte Veränderungen der Mikrozirkulation ein.

Dr. Walthard Vilser aus Jena ergänzte diese Erkenntnisse mit seinem Vortrag zu den technischen Verfahren und der Ermittlung von Kennzahlen für die retinale Gefäßanalyse.
Der frischgebackene 1. Vorsitzende der VDCO, Stephan Hirschfeld, dankte am Ende den Verbänden IVBS und ZVA für die „sehr gute“ Zusammenarbeit. Die Sicht.Kontakte waren seiner Meinung nach „ein Erfolg!“. „Der eingeschlagene Weg, zusammen mit dem ZVA und der IVBS eine gemeinsame Veranstaltung anzubieten, wird von den Mitgliedern und Teilnehmern angenommen“, betonte er. Dass die meisten Teilnehmer trotz „Xavier“ nach Hamburg gekommen seien, zeige, dass der Fortbildungswille da ist. Der Präsident des ZVA, Thomas Truckenbrod, forderte abschließend alle Tagungsgäste dazu auf, „innerhalb wie außerhalb dieser Veranstaltung die Gemeinsamkeiten zu pflegen, die uns alle verbinden“. Dafür seien die Sicht.Kontakte der ideale Ort. „Und wer aufgrund des Sturms neue Wege in die Hansestadt beschreiten musste, wird dies vielleicht nun auch im übertragenden Sinne zuhause im eigenen Betrieb tun“, schloss Truckenbrod. „Ich denke, wir müssen einfach den eingeschlagenen Weg weiter verfolgen und wieder dafür sorgen, dass wir eine so breite Themenpalette anbieten“, lautete die Bilanz des IVBS-Präsidenten, Georg Stollenwerk. Wann hätte es in Deutschland zuletzt eine komplett ausverkaufte optometrische Tagung gegeben?

Mit rein atmosphärischem Rückenwind aus Hamburg können sich die Organisatoren der Verbände nun der Sicht.Kontakte 2018 annehmen. Diese findet voraussichtlich in München – man suche derzeit noch nach einer geeigneten Location, hieß es – und möglicherweise wieder am zweiten Oktoberwochenende statt.